Minutenlang Schwarzfilm

Auf altem russischem Super-8-Material: Nicolas Reys „Les Soviets plus l‘électricité“

8.669 Kilometer sind es von Paris nach Magadan. Ein langer Weg, auf dem es sich der französische Filmemacher Nicolas Rey nicht leicht gemacht hat. Statt bequem mit der Transsibirischen Eisenbahn ist er mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf die Reise gegangen. Eine extrem existenzialistische Erfahrung, die sich auch in seinem dreistündigen Film widerspiegelt: Mit „Les Soviets plus l’électricité“ legt Rey Zeugnis ab über die Opfer der sowjetischen Industrialisierung. Sein Zielort Magadan wurde 1941 gegründet, um mit Hilfe von Gulag-Häftlingen Goldminen auszubeuten.

Das wäre genügend Stoff für eine spannende Aufarbeitung von Geschichte gewesen. Nur wird diese Spur von Rey schon auf der ersten seiner drei Etappen verlassen, die ihn von Paris über Moskau nach Nowosibirsk führt. Denn der 1968 geborene Franzose kommt vom Experimentalfilm und will dort auch bleiben. Deshalb hat er sich für „Les Soviets plus l’électricité“ ein besonderes Wagnis ausgedacht: Der Film wurde auf sieben alten russischen Rollen mit Super-8-Material gedreht. Das entspricht etwa 25 Minuten, die er während seiner Tour zur Verfügung hatte – buddhistischer Ansporn, nur das Wesentliche festzuhalten.

Einen Teil der Bilder sieht man nun in äußerster Verlangsamung. Manchmal nimmt Rey auch nur kürzeste Sequenzen von ein, zwei Sekunden und schneidet minutenlang Schwarzfilm dazwischen. In der Dunkelheit hört man allein seine Stimme aus dem Off eines rauschenden Diktafons. Dann erfährt man, dass er aufgrund mangelnder Devisen keine Drehgenehmigung für Tschernobyl erhalten hat: Das Katastrophengebiet, murmelt Rey, ist zur „kommerziellen Angelegenheit“ geworden.

Die Absicht hinter dem ästhetischen Hardcore wird erst nach einer Weile klar. Statt Beweise für das Pro und Contra in Sachen Untergang der Sowjetunion zu sammeln, stellt Rey das Filmemachen ins Zentrum: Wo immer Bilder und Töne montiert werden, entsteht nicht Wirklichkeit, sondern Fiktion. Das ist seine formal auf den Punkt gebrachte These zur Geschichte der UdSSR. Zugleich ist das sichtbare Geschehen stets identisch mit dem, was die Kamera überhaupt sah. Interessant ist an dieser Haltung nicht das Dogma der Eins-zu-eins-Abbildung von Realität, sondern der Eigensinn, den die teils unterbelichteten, teils verschwommenen Bilder entwickeln. Man ist komplett der subjektiven Bildsprache ausgeliefert – und den Widrigkeiten des Materials. Mal nimmt sich Rey viel, viel Zeit, um Arbeiter beim Bergen eines Kleintransporters zu filmen. Später am Ziel löst sich die Hauptstraße von Magadan wiederum in einem stechend hellen Flimmern auf. Der Filmemacher Boris Lehman hat diese Methode mit der Dichtung von Kerouac oder Ginsberg verglichen – weil sich auch Rey auf seiner Reise „außerhalb der Zeit“ befinde.

HARALD FRICKE

Bis 5. 6., Kino in der Brotfabrik. Am 26. 5. stellt Nicolas Rey Experimentalfilme aus Paris vor.