„Äußerst geschickt agiert“

Erstmals in einem Prozess gegen den Castor-Protest forderte die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe. Verteidigung spricht von „Kriegserklärung“, warnt vor Paragraf 126 a – Bildung einer terroristischen Vereinigung – und will in Berufung gehen

„Wenn sich Hunderte anketten, sind Castor-Transporte nicht mehr durchführbar“

aus Lüneburg HEIKE DIERBACH

Mit „aller Härte des Gesetzes“ hatte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) am Tag danach gedroht – übrig geblieben ist vorerst eine Geldstrafe. Das Amtsgericht Lüneburg verurteilte gestern die vier Männer, die sich im März 2001 auf der Castor-Transportstrecke im Beton anketteten, wegen „Störung öffentlicher Betriebe“ zur Zahlung von je 525 Euro. Gleichzeitig wurde der Vorwurf der Nötigung fallen gelassen. Aufgrund ihrer Aktion musste erstmals in der Geschichte des Gorlebener Anti-Atom-Protestes ein Castor-Zug rückwärts rollen.

Richter Franz Kompisch sah es als erwiesen an, dass die vier Angeklagten Mihai Dobberthien (31), Alexander Gerschner (36), Sascha Bhattacharyya (30) und Arno Külz (34) den Betrieb der Bahngleise durch ihren Aufenthalt dort „unbrauchbar“ gemacht hatten. Er folgte auch nicht der Argumentation der Verteidigung, dass der Transport von Castoren keine öffentlicher Betrieb sei: „Güterverkehr ist öffentlicher Verkehr“, ungeachtet des privaten Auftrages. Für eine Verurteilung wegen Nötigung aber „fehlt es schlicht an der Gewalt“: Die bloße Anwesenheit im Gleis sei nur psychischer Zwang, „und die Ankettung ist insofern nur die Perpetuierung von Nicht-Gewalt“.

Richter Kompisch räumte ein, dass die Castor-Gegner derart rechtlich „äußerst geschickt agierten“. Bei dem relativ geringen Strafmaß berücksichtigte er zudem, dass die vier Männer mit der Aktion „vor allem sich selbst gefährdeten“.

Die Staatsanwaltschaft hatte –erstmalig seit dem Beginn des Widerstandes im Wendland – Freiheitsstrafen gefordert: sechs und neun Monate Haft auf Bewährung. Anklagevertreter Thomas Vogel hielt den vier Männern zwar ihre „ernste Sorge“ über die Gefahren der Atomenergie zugute und zeigte sich gar „beeindruckt“ von dem Engagement des Angeklagten Mihai Dobberthien, der in Weißrussland Wohnungen für die Umgesiedelten aus Tschernobyl gebaut hat. Dennoch müsse die Strafe „generalpräventive Funktion“ haben: „Wenn sich demnächst Hunderte so anketten, sind die Castor-Transporte nicht mehr durchführbar“ – eine Aussicht, die die rund hundert UnterstützerInnen im Gerichtssaal spontan begeisterte.

Die Verteidigung, die auf Freispruch plädiert hatte, wertete die Forderung nach Freiheitsstrafen als „Kriegserklärung“ und „Stoiberisierung des Strafverfahrens“: „Der Atomstaat ist im Gerichtssaal angekommen“, sagte Rechtsanwalt Dieter Magsam. Sein Kollege Wolfgang Kaleck warnte vor einer weiteren Verschärfung der Repression, wenn Blockaden als Störung öffentlicher Betriebe verfolgt werden: Denn diese zählt zu den Tatbeständen, die eine Anklage nach Paragraf 126a – Bildung einer terroristischen Vereinigung – begründen können.

Kaleck kündigte daher den „Gang bis in die letzte Instanz“ an. Die Angeklagten wiesen vor der Urteilsverkündung in einer kurzen Erklärung erneut auf die Gefahren der Atomenergie hin: „Das Festhalten daran ist ein Verbrechen gegen die Menschheit.“ Jede demokratische Gesellschaft könne zudem „auf kritische Gegenbewegungen nicht verzichten“. Insofern habe das Gericht auch darüber zu entscheiden, „was den Herren Schily, Bertling und Mehdorn zugemutet werden kann“. Die Verteidigung hat bereits angekündigt, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Die Staatsanwaltschaft machte dazu noch keine Aussagen.