Zu den Waffen! Zur Kunst!

Im Kampf gegen das gemeine Verbrechen setzt die Stadt Hamburg jetzt auf eine sehr ästhetische Lösung

Das hätten sich Bach, Händel, Vivaldi und all die anderen Großkomponisten der vergangenen Jahrhunderte vielleicht so doch nicht träumen lassen: Dass ihr gefälliges, eingängiges und ethisch unanfechtbares Musikschaffen einmal dazu dienen sollte, Menschen zu vertreiben. Aber es geschieht, und zwar am hellichten Tag, vor aller Augen auf dem Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofes, der bis vor einiger Zeit von der Drogen-, Fixer-, Stricher- und Dealerszene in Beschlag genommen wurde und der jetzt verwaist, von Mensch und Unrat gesäubert, daliegt, leise und pausenlos berieselt von Menuetten, Tänzen und Sinfonien, die aus kleinen Lautsprechern auf die Reisenden und Verweilenden einplätschern – nur eben nicht mehr auf Obdachlose und Junkies, die aus Angst vor einem Kulturschock das Weite gesucht haben.

Der Hamburger Bürger reibt sich die Augen, verwundert ob dieser geradezu sanften, ja ästhetischen Lösung eines jahrzehntealten Problems, bewerkstelligt ausgerechnet von dem als „Richter Gnadenlos“ ins Innensenatorenamt gelangten und nun als Geheimfeingeist agierenden Ronald Barnabas Schill.

So einfach geht’s und kann’s gehen, die oft belächelte Parole „Kunst als Waffe“, wie sie in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts der kommunistische Schriftsteller Friedrich Wolf proklamierte, sie funktioniert also doch, und der Hamburger Senat überlegt jetzt, ob er die Polizei statt mit Pistolen und Schlagstöcken mit tragbaren Soundblastern ausrüsten soll, oder ob er vielleicht gleich Tenöre und Kirchensänger in Uniform steckt und singend durch die Problemzonen der Stadt ziehen lässt wie weiland die Heilsarmee.

Eine Stadt wird Oper! Sie singt ihre Miss- und Übelstände – vulgo Menschen – radikal weg! Angesichts eines Bettlers, Berbers oder Penners greift jeder Hamburger und jede Hamburgerin einfach zur Arie und singt auf ihn ein: „O sole mio, o sole mio Häng hier nicht rum – geh doch nach Rio!“ So oder so ähnlich.

Aber halt! Wäre dies nicht eine unzulässige Bevorzugung einer Kunstgattung, nämlich der Musik, zu Ungunsten aller anderen? Müssten sich nicht die Dichtung, die bildende und die darstellende Kunst sowie all die anderen Genres und Gattungen düpiert fühlen, wenn sie bei dieser großartigen und historisch wohl einmaligen Kunstaktion ausgeschlossen würden? Anders gefragt: Hätten nicht auch sie einen spezifischen Beitrag zu leisten, um die Stadt Hamburg von undekorativen Elementen zu säubern?

Aber gewiss doch, sagten sich die Kommunalpolitiker im Rathaus von Altona, als sie darüber berieten, wie der Drogenszene, die nach ihrer musikalischen Vertreibung vom Hauptbahnhof nun im Park hinter dem dortigen Bahnhof Zuflucht gesucht hatte, beizukommen sei. Sie beschlossen, diesmal nicht per Klang vorzugehen, sondern mit Licht zu agieren. Geplant ist, die Fläche vom Bahnhof über den anschließenden und durch Büsche und Bäume umgebenen Platz der Republik unter der Regie eines lokalen Lichtkünstlers gleichmäßig in Licht zu tauchen bzw. zu „illuminieren“, wie alle Beteiligten betonen.

Das Kunstlicht soll mit Einbruch der Dämmerung dem Bürger Sicherheit demonstrieren und zugleich lichtscheues Gesindel vertreiben. Licht als reinigendes Element soll so Licht in ein Dunkel bringen, das nur allzu gern dunkel bliebe. Transparenz, Erleuchtung, Lichtung – die Liste der Begriffe, Bezüge und Bedeutungen ist lang. Bertolt Brechts „Denn man sieht nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht“ spielt hier hinein, ebenso wie Alttestamentarisches. Amtlich festgeschrieben ist diese von allen lokalen politischen Fraktionen bis hin zu den Grün-Alternativen getragene Kunstaktion unter dem schwerwiegenden Titel „Es werde Licht!“

Schon rechnet ganz Hamburg damit, dass sich weitere Künstler, Lyriker, Maler und Tänzer, in Problemzonen der Stadt postieren, um dort per Vers, Bild oder Tanzeinlage die Elenden zu verscheuchen. „Es werde Licht!“ – der Anfang ist gemacht, wir stehen am Beginn einer neuen Welt, einer Epoche, in der Künstler ihren Werken ganz ungeahnte ordnungspolitische Dimensionen verleihen werden. Was für Aussichten – wenn die Hamburger in Not nicht mehr „Hilfe, Polizei!“ ausrufen, sondern mit „Achtung, Lyrik!“ die Lokaldichter alarmieren, die Wacht am Reim stehen. RAYK WIELAND