„Kunst darf Grenzen verletzen“

Der schönste Moment ist der, in dem das Objekt fliegt: „Riesenbratling“-Initiatoren interessiert vor allem die Dimension. Ästhetische Facetten eines stark diskutierten Artgenda-Projekts, das nicht einmal als Kapitalismus-Kritik gemeint ist

von PETRA SCHELLEN

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Klar, den Brecht-Spruch kennt jeder. Bizarr ist nur, dass sich in unseren Wohlstandszeiten die Sorge um fremden Umgang mit Essen umgekehrt proportional zur eigenen Verschwendung verhält – fast, als müsse man die eigene Sorglosigkeit durch hehre Theorien wettmachen.

Anders ist kaum zu erklären, warum das Thema „Riesenbratling wird durch die Luft geschleudert“ in dieser Stadt für so viel Aufregung sorgt. Niemand spricht derweil von in EU-Verantwortung vernichteten Essensbergen, von Subventionen für brach gelassene Felder. Keiner erwähnt die aus privaten Kühlschränken Woche für Woche entsorgten verschimmelten Joghurts. Und niemand fragt ernsthaft, warum gerade dieses Thema allzeit Moralisten auf den Plan ruft, wenn‘s irgendwo nach Verrat riecht.

Dabei hat die Gruppe Wuuul mit ihrem „Riesenbratling“-Projekt, das Teil der Ostseekunst-Biennale Artgenda ist, an der sich vom 7. bis 23. Juni über 300 Künstler beteiligen, gar keine Kapitalismus-Kritik bezweckt: „Uns hat einfach das Bild gefallen: Wir grillen einen Riesenbratling und katapultieren ihn dann durch die Luft – auf dem Sandplatz zwischen dem König der Löwen-Zelt und den Hallen von Blohm + Voss“, sagt Peter Lynen. „Das ist eine riesige Herausforderung. Denn keiner von uns weiß, ob der 800 Kilo schwere Bratling wirklich fliegen wird.“

Seit einem Jahr ist die vierköpfige KünstlerInnengruppe mit Berechnungen von Fliehkraft, spezifischem Gewicht und Festigkeit beschäftigt. Faszinosum ist dabei vor allem die Dimension: Einen Durchmesser von 2,50 Metern wird der aus Grünkern, Bindemitteln, Stroh und Semmelbröseln gefertigte Bratling haben, auf einem Grill mit 3-Meter-Platte geröstet werden und so integraler Teil einer Gesamtskulptur sein.

„Mich beeindruckt die Diskrepanz zwischen dem, was der Mensch per Technik zustande bringt, und dem, was er mit seiner Hände Arbeit schafft“, sagt Lynen. Und dies im Kollektiv zu testen, haben Ingrid Scherr, Heino Stavermann, Alexander Hoepfner und Lynen im Sinn.

Ein Prozess, in dessen Verlauf auch das Katapult an Bedeutung gewinnt: „Ohne dieses Gerät, das wir selbst bauen, könnten wir die Aktion nicht durchführen“, sagt Lynen. Und doch birgt auch dies weitere Facetten: „Das Katapult war einst wichtiges Kriegsgerät – ein Aspekt, der uns erst im Verlauf der Arbeit auffiel.“

Spielerisch gehen die Künstler mit solchen Assoziationen um. Und ganz nebenbei entstehen neue Fragen wie die nach dem Grund für die Benutzung von Nahrungsmitteln. „Dass das provozieren würde, war nicht explizit gewollt, aber natürlich möglich“, erklärt Stavermann. „Reine Gesellschaftskritik fänden wir allerdings zu einseitig“, so Lynen. „Darin liegt ja gerade das Problem: Dass wir auf etwas festgelegt werden sollen. Dass die Leute in Begriffe fassen wollen, was wir machen, damit es handhabbar wird. Aber das wäre eindimensional, langweilig und ungefährlich – und solche Kunst möchte ich nicht machen.“

Er plädiert stattdessen für Flexibilität: „Warum soll man nicht mal etwas angucken, das man nicht gleich versteht? Das Ästhetische an unserem Projekt ist der Moment, in dem der Bratling durch die Luft fliegt, und wenn es nur Sekunden sind.“

Ein ästhetischer Zeit-Raum, den die Kulturbehörde nach wie vor unterstützt: „Eine Unterbrechung des Projekts kommt für uns nicht in Frage“, sagt Behördensprecher Andreas Ernst. „Kunst darf und soll Grenzen verletzen. Die Verantwortung für Material und Prozedere liegt allein beim Künstler. Und von einer Einmischung in Kunstaktionen sind wir weit entfernt. Solche Zensur wollen wir auf keinen Fall.“