Schau heimwärts, Engel!

Wenn der Weltgeist am Tresen einer brasilianischen Bar monologisiert und dabei jede sinnliche Gewissheit verloren geht: Robert Menasse erhält am Sonntag in der Akademie der Künste den Lion-Feuchtwanger-Preis 2002

Germanisten sind in der Regel der Ansicht, der Autor eines Buches sei so ungefähr der Letzte, der zu seinem Buch noch etwas zu sagen habe. Dem Autor Robert Menasse damit beizukommen, dürfte jedoch schwierig sein: Er ist nicht nur Schriftsteller, sondern selbst promovierter Germanist.

Deshalb sollte man ihn ernst nehmen, wenn er über sein Romanprojekt „Trilogie der Entgeisterung“ sagt, jetzt könne der Engel der Geschichte „nicht mehr ankommen – wissend wo; und kehrt zurück – vergessen habend, wohin“. Der Engel der Geschichte, der die Richtung seines Flugs ändert und sich plötzlich auf die Vergangenheit zubewegt, anstatt Kurs auf den Fortschritt zu halten: Mit diesem Bild steckt Menasse den Rahmen für seine Trilogie ab.

Zwischen den drei Romanen, die zwischen 1988 und 1995 entstanden sind, besteht ein loser, aber deutlich erkennbarer Zusammenhang. Die Figur des Ich-Erzählers aus dem ersten Roman, der Wiener Geisteswissenschaftler Roman, kommt auch im zweiten Roman vor und spielt im dritten sogar die Hauptrolle, sodass am Ende die „Trilogie der Entgeisterung“ eine Roman-Trilogie im doppelten Sinn geworden ist.

Das ganze Projekt ist wenig bescheiden. Menasse konstruiert die Trilogie im Stil eines Dreischritts à la Hegel. Er liest dessen „Phänomenologie des Geistes“ gewissermaßen vom Ende her. Die drei Romane sind so etwas wie umgekehrte Bildungsromane: Die Trilogie als Ganzes ebenso wie jedes einzelne Buch beschreibt eher einen Rückschritt als eine Entwicklung. In „Sinnliche Gewissheit“ geht eben dieselbe in einer brasilianischen Bar verloren, der Held von „Selige Zeiten, brüchige Welt“ wird im Glauben an die Kraft seiner Gedanken erschüttert, und schließlich findet in „Schubumkehr“ die Regression mit dem ins Groteske verkehrten Fall des Eisernen Vorhangs ihren Abschluss.

Ein zusätzlicher Essay, die „Phänomenologie der Entgeisterung“, sorgt für die philosophisch-poetologische Unterfütterung. Robert Menasse erzählt die „Geschichte des verschwindenden Wissens“, wie er es nennt, und demontiert damit ganz nebenbei die Geschichtsphilosophie. Bei ihm monologisiert der Weltgeist am Tresen der brasilianischen Bar und schafft es nicht mehr, seine Monologe noch zu Papier zu bringen. „In einer Bar und in wissenschaftlichen Untersuchungen behaupten wir alles mögliche“, weiß dieser gescheiterte Weltgeist im Roman. Was bleibt, wenn man die Geschichtsphilosophie verabschiedet? Robert Menasse hat mit seinem letzten Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“ neues Terrain betreten. Zwar zielte schon die Trilogie auf das große Ganze, auf die umfassende Beschreibung einer Epoche, die man zwischen den Eckdaten 1968 und 1989 ansiedeln kann. „Die Vertreibung aus der Hölle“ ist nun weniger der Roman einer bestimmten Epoche als ein Zeitroman, der seine erzähltechnischen Spiegeleffekte geschickt einsetzt: Nicht verschiedene Zeiten gegeneinander abzugrenzen, sondern eine gewisse Gleichzeitigkeit herzustellen ist sein Anliegen.

Menasse verknüpft dazu die Geschichte des zeitgenössischen Historikers Viktor Abravanel mit der von Spinozas Lehrers Rabbi Manasseh. Während der Rabbi zuerst die Verfolgung der Juden in Lissabon und später erschreckend ähnliche Vorkommnisse in der jüdischen Gemeinde von Amsterdam erlebt, wird Viktor auf Grund von falschen Anschuldigungen aus seiner politischen Studentengruppe ausgeschlossen. Durch die Verbindung der beiden Zeitebenen wird die Lehre des Rabbis anschaulich: „Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich.“

Gerade wer zu dieser Erkenntnis gelangt ist, muss aber immer neu seinen Umgang mit dem definieren, was sich im Laufe der Zeit unter veränderten Vorzeichen wiederholen mag. Wenn Robert Menasse an diesem Sonntag in der Berliner Akademie der Künste den Lion-Feuchtwanger-Preis 2002 erhält, dann möchte die Jury mit ihrer Entscheidung wohl auch seine Art des Umgangs mit diesen wiederkehrenden Konstellationen würdigen.

ANNE KRAUME

Am Sonntag, 26. Mai 2002, 11.30 Uhr, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten. Die Laudatio hält Aleksandar Tisma, Robert Menasse liest aus „Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung“.