FINNLAND BAUT NEUES AKW – WEIL SEINE INDUSTRIE INEFFIZIENT ARBEITET
: Steinzeittechnik für Energieverschwender

Atomkraft, nein danke? Von wegen! Gestern hat das Parlament in Helsinki den Bau eines neuen Kernkraftwerks beschlossen. Mit gutem Grund: Finnland will seine Verpflichtungen aus dem Kioto-Abkommen einlösen. Und das geht angeblich nur mit „ausstoßsauberem“ Atomstrom.

Dank Kioto erlebt die Nuklearbranche weltweit eine Renaissance unter einem neuen Motto: Atomkraft, ja bitte – dem Klima zuliebe. Wer wirklich etwas gegen den Ausstoß von Kohlendioxid tun will, muss Atomkraftwerke bauen – diese Marschrichtung hat US-Vizepräsident Dick Cheney vorgegeben. Auch die EU-Kommission erklärte bereits 1999 in ihrer „Dilemma-Studie“ die Atomkraft zum Klimaretter. Indien, Frankreich oder Kanada beantragten bei der UN, Atomkraft als nachhaltige Energieform zu führen. Der rote Wirtschaftsminister Werner Müller bilanzierte in seinem Energiebericht: Ohne Atomstrom ist das deutsche Klimaziel nicht zu schaffen. Und: Hat denn nicht der Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus gezeigt, dass nicht nur das westliche System an sich, sondern auch dessen Atomtechnik besser ist?

Der GAU von Tschernobyl ist lange her. An den Zwischenfall im US-amerikanischen AKW Harrisburg kann sich kaum noch jemand erinnern. Warum sollen wir Deutschen jetzt auf die Finnen einprügeln, die als erstes EU-Land seit Tschernobyl einen Reaktorneubau auf den Weg bringen? Ganz einfach: Es ist zwar unbekannt, ob die finnische Entscheidung mit Edmund Stoiber abgestimmt ist. Bekannt ist aber, dass der Kanzlerkandidat der Union als Chef des deutschen Reichstages die Option „Kernkraft“ wieder offener gestalten will. Nur: Alle verfügbaren Daten belegen, dass Atomkraft ein Auslaufmodell ist. 30 Jahre lang haben die Energieindustrien die Entwicklung der Verbraucherstrukturen völlig falsch eingeschätzt.

Westeuropa hat heute deshalb Überkapazitäten, die der Stromproduktion von 40 AKWs entsprechen. In Osteuropa ist die Situation noch dramatischer. Was Stoiber wirklich von Finnland lernen könnte, ist, dass dort der Strombedarf nur deshalb steigt, weil sich die Industrie nie um Effizienz geschert hat. Hier muss nachhaltige Energiepolitik ansetzen – nicht beim Reaktorbau. NICK REIMER