Stockente von links

In Düsseldorf zeigt ein Kino auf Rädern den wohl spannendsten Film aller Zeiten

Sanft gewellte Wiesen, alte Bäume, ab und zu kreuzen Spaziergänger das Gelände

So ein Kino hat man sich schon immer gewünscht. Klein und gemütlich, mit nur 35 Plätzen. Gut klimatisiert. Der Eintritt frei. Man kann kommen und gehen, wann man will. Kein Zuspätkommen. Durchgehende Vorstellung von mittags bis zehn Uhr abends. Der Film ist so aufgebaut, dass man nie das Gefühl haben muss, etwas verpasst zu haben oder noch zu verpassen. Die Filmmusik: einfach betörend. Zwar wohl bekannt, aber das ist ja gerade das Schöne. Überflüssig zu betonen, dass dem Besucher dieses Kinos jegliche Werbung erspart bleibt. Kein verkrebster Marlboromann, keine Bier trinkenden Yuppies stehlen ihm die Zeit. Es geht direkt hinein ins Vergnügen.

Kein Wunder, dass sich das „cinema on wheels“, wie die Spielstätte heißt, obwohl sie durchaus nicht auf Rädern steht, derzeit beim Düsseldorfer Publikum wachsender Beliebtheit erfreut. Andachtsvoll versinken Alt und Jung in den blauen Polstersitzen, ganz den Bildern und Klängen hingegeben. Wobei der Überraschungseffekt beim ersten Eintreten in den dunklen Raum regelmäßig spontane Kommentare auslöst. „Ach so!“, meint zum Beispiel treffend ein Kappen- und Dosenträger, und sein ähnlich bewaffneter Kumpel antwortet: „Geil!“ Dann sind sie allerdings auch schon wieder raus. Nun ja, nicht jeder bringt die Geduld eines echten Cineasten mit.

Auch beim Businessmann mit gepunkteter Krawatte, der sich hierher verirrt hat, ist das leider so. Ihm läuft ein kurzes, zwischen Unverständnis, Gequältheit und Arroganz changierendes Zucken übers Bürogesicht, ehe er, schneller noch als die beiden Kappen- und Dosenträger vor ihm, dem erhabenen Schauspiel entflieht. Hätte die Sache ein saftiges Eintrittsgeld gekostet, zum Beispiel 29,80 Euro, wahrscheinlich wäre er geblieben. Aber was soll’s, die Bürohengste kommen und gehen, die Kunst jedoch währt ewig.

Ein neuerliches Poltern und Tuscheln im Eingangsbereich. Zwei Damen kämpfen mit der plötzlichen Dunkelheit. „Ist das Video?“, fragt die eine, dickbebrillte, zur Leinwand starrend. Die andere bricht in hemmungsloses Gelächter aus. Da fällt auch bei der Kurzsichtigen der Groschen. „Düsseldorf ist doch schön“, schwärmen sie.

Vielleicht sollte man an dieser Stelle etwas näher auf die Funktionsweise dieses neuartigen Kinos eingehen. Kurz gesagt: Es hat nicht nur keine Räder, was wenig erheblich ist – es hat auch keine Leinwand, und das ist allerdings sehr erheblich. An ihrer Stelle klafft eine große Öffnung und gibt den Blick frei auf ein Stück Park – den Hofgarten, um genau zu sein. Wirklichkeit pur: Sanft gewellte Wiesen, alte Bäume, ab und zu kreuzen Spaziergänger das Gelände, ahnungslos, dass sie gerade eine Hauptrolle spielen. Den Rest besorgt Ennio Morricones melodramatische Musik aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ – immer abwechselnd die elegische und die bedrohliche Weise mit der wehklagenden Mundharmonika. Der Sound passt immer. Ob der Wind die Zweige schüttelt, der Himmel sich verdüstert, die Sonne durchbricht oder Regen einsetzt, ob ein Mensch von rechts nach links oder eine Stockente von links nach rechts durch die Szene watschelt oder ein Taubenschwarm geradewegs auf das Kinopublikum zudüst, ehe er noch rechtzeitig übers Dach setzt – es macht sich ganz prima zum Schmelz der himmelwärts summenden Frauenstimme, zu den bohrenden Figurationen, der auftrumpfenden Kavallerie-Rhythmik, dem Anschwellen und Abebben des musikalischen Stromes.

Der Film ist von jedem Kinoplatz aus ein anderer. Da tauchen am linken Bildrand plötzlich zwei bis dahin völlig unbekannte Bäume auf, außerdem ein Mückenschwarm, der im Abendsonnenlicht tanzt, kongenial von Morricones Breitwandsound begleitet. Den vorderen Sitzreihen wird mehr Himmel geboten. Dagegen sind die Plätze weiter links weniger zu empfehlen, von dort fällt der Blick auf eine böse Lücke im entfernteren Buschwerk, durch die sich schnöde Autos schieben. Regiepanne oder kühne ästhetische Brechung? Die Antwort weiß nur Job Koelewijn aus Amsterdam. Der Vierzigjährige ist der Erfinder des Kinos, eines von 30 Kunstprojekten, die zur derzeitigen Düsseldorfer Open-Air-Ausstellung „hell-gruen“ gehören, die bis zum 6. Oktober läuft.

„Werden hier noch andere Filme gezeigt?“, fragt ein Rentner beim Verlassen des Kinos. Man sieht: Das Publikum denkt mit.

OLAF CLEES