Die Kunst, „dabei zu sein“

Künstler aus der ganzen Welt präsentieren beim Berliner Festival „In Transit“ ihre Arbeit, vor allem aber sollen sie darüber streiten und diskutieren. Und das Publikum soll bei diesen Arbeitstreffen, den Labs, dabei sein. Idee und Regie: Ong Keng Sen

Interview EDITH KRESTA

taz: Sie haben ein fantastisches Programm für „In Transit“, dem Festival im Berliner Haus der Kulturen der Welt, zusammengestellt. Was erwarten Sie selbst davon?

Ong Keng Sen: Ich hoffe, dass dabei die Komplexität der verschiedenen Kulturen zum Ausdruck gebracht wird, damit die einzelnen Kulturen nicht einfach in Schubladen gepackt werden. Das Festival soll den verengten Blick auf Kulturen weiten.

Und dazu präsentieren Sie in einer Art dokumentarischer Performance Lebensgeschichten, Biografien?

Das Festival setzt sich aus vielen verschiedenen Arten der Performance zusammen. Die Kunst heute ist sehr an der Perfektion und der Form orientiert. Die Schauspieler sind hervorragend, das Bühnenbild ist spektakulär. Doch wo bleibt die künstlerische Aussage? „In Transit hingegen lässt die Personen mit ihren eigenen Biografien sprechen, zum Beispiel die japanische Sexarbeiterin BuBu. Sie sagt dem Publikum frank und frei, wie sie sich als Prostituierte fühlt und wie ihre Arbeit als Prostituierte sie als Frau stark macht. Es ist ihr eine Notwendigkeit, sich künstlerisch auszudrücken.

Der Begriff vom Authentischen ist für Sie so ein festgefahrener Blickwinkel. Sie bezeichnen ihn als Kitsch.

Ich komme aus der chinesischen Kultur, und da musste ich mich immer mit dem Authentischen auseinander setzen. Wer ist der authentischere Chinese, der in China, in Singapur, Hongkong oder Taiwan? Sind meine Eltern authentischer als ich, weil sie eine Erinnerung an ihr Herkunftsland China haben? Ich glaube, wir sind heute alle mehr oder weniger Hybriden. In unserem Stil, unserem Geschmack, der Art zu denken. Das verbindet uns. Das Authentische ist ein falsches Ideal. Es ist so, als ob wir glaubten, das richtige Leben findet woanders statt. Aber es geht doch darum, wie wir unsere eigene Authentizität finden, anstatt vom authentischen Ideal zu träumen. Das authentische Bayern zum Beispiel ist doch heutzutage Kitsch. Wenn wir nach dem Authentischen suchen, neigen wir zu schnellen Lösungen. Zum Beispiel Tibet und Buddhismus. Wir müssen das Authentische in uns selbst finden. Und jeder von uns bringt andere Voraussetzungen mit.

Und diese anderen Voraussetzungen will „In Transit“ aufzeigen?

Zunächst ist es wichtig, überhaupt die Tür aufzumachen und über die Schwelle in einen anderen Raum zu treten. Ob hier in Berlin oder in Singapur, meist hat man Angst, die Schwelle zu überschreiten. Den das schafft oft Verwirrung und durchkreuzt Erwartungen.

Zu viel Verwirrung kann auch schockieren, verunsichern. Auch das Angebot bei „In Transit“ ist unübersichtlich, vielleicht auch verwirrend.

Ja, deshalb haben wir die Workshops, Labs, eingerichtet. Sie sollen Brücken zum Publikum bauen, um die Aufführungen dem Publikum leichter verdaulich zu machen. Ich glaube zwar, dass Kunst für sich selbst stehen muss, aber wir wollen auch mit den Künstlern in den Labs darüber reden, in welchen politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen sie leben. Das Lab ist die Möglichkeit, den künstlerischen Prozess und das Werk dem Publikum verständlich zu machen und nicht nur das Endergebnis zu präsentieren.

Und gleichzeitig sollen die Künstler untereinander kommunizieren?

„In Transit“ soll auch ein Raum sein, wo sich Künstler treffen, diskutieren und wo es natürlich zu großen Meinungsunterschieden kommen wird. Dass beispielsweise ein Künstler sagt: Meine Arbeit beruht auf meiner Identität. Ein anderer sagt: Ich lehne die Identität, in die ich hineingeboren bin, ab und wähle eine andere. Ich mag diese Spannung, diese Aggression, die Debatte, den Streit.

Warum bestehen Sie so auf der Debatte?

Ich finde, dass in der Kunst heutzutage zu wenig debattiert wird und die Unterhaltung im Vordergrund steht.

Wollen Sie nicht unterhalten werden?

Wir alle lieben die Dekadenz, das Leben, den Konsum, aber wir sollten uns trotzdem immer fragen, warum wir tun, was wir tun. Warum schreiben wir, warum malen wir, warum schauspielern wir, warum kann ich kein Koch sein? Oder warum kann ich kein Rechtsanwalt sein, was ich studiert habe? Es gab damals schon so viele gute Rechtsanwälte in Singapur, und ich wäre ein weiterer gewesen. Es gab keine Notwendigkeit, Rechtsanwalt zu werden. Als ich mit dem Theater anfing, da gab es in Singapur noch keine Kunstindustrie. Seit den letzten zehn Jahren gibt es viel. Aber damals war das Bedürfnis da, sich auszudrücken.

Die „Biografien sind der Stoff für hochpolitische Stücke“, ist im Programmheft zu lesen. Was heißt für Sie Politisierung der Kunst?

Globale Kunst und Globalisierung beispielsweise sind Begriffe, die mir nicht viel sagen. Ich denke, man kann niemanden politisieren, man kann jemanden allenfalls dazu bewegen, seinen Kontext wahrzunehmen und darauf zu reagieren.

Was verstehen Sie unter „politisch“?

Alles, was ich tue, kann ich wählen. Das ist politisch. Zum Beispiel ist es für mich politisch, in Dänemark eine „Hamlet“-Aufführung mit asiatischen Schauspielern zu machen. Aber der Austausch hat zwei Seiten. Wir Künstler aus Asien oder Afrika kommen hierher nach Europa und zeigen unsere Kunst, aber wir brauchen auch Europäer, die nach draußen gehen, beispielsweise nach Asien, nicht als Überlegene, sondern als jemand, der nach Veränderung sucht. Politisierung kann man nicht programmieren. Man kann nicht sagen: Lasst uns global oder politisch sein! Die Leute müssen selbst dazu kommen, aus sich selbst heraus. Denn heutzutage ist es modern, politisch zu sein. Bespielsweise reden viele über den Nahostkonflikt, aber für mich ist das nicht tief, es wird nicht gefühlt, es ist ein modisches Thema, es ist ein intellektuelles Bekenntnis. Aber spüren die Leute etwas, sind sie dabei?

Man kann nicht überall dabei sein, mitfühlen …

Ja, aber ich glaube, man muss immer an etwas Konkretem ansetzen. Deshalb brauchen wir den konkreten Raum der Labs, wo die Leute kämpfen und argumentieren, etwas bewegen und wo man sich nicht an irgendeiner Theorie abarbeitet. Ich glaube, es ist ein Gewinn, Leuten bei der Arbeit zuzusehen. Wenn Sie eine Weile jemandem bei der Arbeit zuschauen, jemandem, der eine Violine baut, oder jemandem, der sehr hart an etwas arbeitet, beginnen Sie, die Welt unterschiedlich zu sehen. Denn diese Leute sind ganz dabei, sie glauben an das, was sie tun. Sie sind drin. Und ich finde, dieses Gefühl fehlt uns heute sehr oft. Es gibt viele Leute, die über Politik reden, aber sie nicht leben.

Und Sie glauben, dass Kunst helfen kann, dabei zu sein?

Ich glaube, Kunst oder die Begegnung mit jemandem kann etwas bewegen. Zum Beispiel hat mich die Begegnung mit Ern Theay, der kambodschanischen Tänzerin, sehr stark berührt. Zum einen ihre Lebensgeschichte, aber sie hat auch eine Aura, eine Ausstrahlung. Sie ist ganz in ihrer Arbeit. Und ich denke, wir treffen oft auf solche Leute mit Kraft, mit der Fähigkeit, zu berühren. Ern Theay ist keine wichtige Person, nur eine Frau, die tanzt und an ihre Arbeit glaubt.

Sie haben nicht das große, künstlerische Werk im Auge?

Nein. Ich möchte, dass die Leute über ihr Leben, ihre eigene Theorie sprechen.

Ist das nicht sehr romantisch?

Mag sein, aber jetzt, wo wir die Illusion haben, dass alles in der Regieanweisung steht, in den Theorien, der Wissenschaft, möchte ich mich auf das gelebte Leben beziehen. Ich habe bei meiner Ausbildung alle die wunderbaren klugen Bücher gelesen, aber ich weiß auch, dass es für mich wichtig ist, Verbindung mit jemandem herzustellen, der all dies lebt. Es ist notwendig, in Beziehung zu treten. Manchmal ist es jemand ganz Einfaches, der Türke, der den Laden gegenüber betreibt. Die Person vor Ort darf nicht vergessen werden. Wir glauben, es ist banal, es ist Kitsch, es ist dumm. Aber man kann etwas daraus lernen.