vorlesungskritik
: Die Kulturwissenschaftlerin Cristina von Braun hält einen Vortrag über „Das Geschlecht der Erinnerung – die Erinnerung des Geschlechts“

Immer wieder Körpersprachen

Es ist ein schöner Sommertag und auch ein lauter, denn der amerikanische Präsident weilt in der Stadt. Beständig wird über Berlin patroulliert. „Wir haben es heute mit Hubschraubern zu tun“, stellt Prof. Christina von Braun fest, und da ihre Stimme nicht nach hinten durchdringt, werden die Fenster geschlossen.

„Das Geschlecht der Erinnerung – die Erinnerung des Geschlechts“ heißt die Vorlesung der Kulturwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität. Zwei Gedächnisstränge, so beginnt sie, durchzögen unsere Kultur: Ein „kanonischer“ und ein „untergründiger“, nach Art der „stillen Post“. Das Medium des Kanons, also der Norm der Überlieferung, sei die Schrift und diese als Trägerin des kollektiven Gedächtnisses anerkannt. Die „stille Post“ sei die mündliche Tradition, „Überlieferung von Mund zu Ohr“.

Eine Gemeinschaft, so von Braun, bilde sich da, wo eine gemeinsame Erinnerung bestehe. Die mündliche Überlieferung nun sorge dafür, dass „ein bestimmtes Wissen“ nicht untergehe. Dieses Wissen sei nicht in den Kanon integrierbar, zugleich aber dessen Existenzbedingung, denn: „Jeder Kanon braucht das Nicht-Kanonisierbare, um sich selbst zu definieren.“ Genau hier liege das Paradox westlicher Gesellschaften: „Sie verdrängen diese Erinnerung; und sie brauchen sie gleichzeitig, als Verdrängtes.“ Oder, mit einem Zitat des Psychoanalytikers Lacan: „Die Amnesie des Verdrängens ist eine der lebhaftesten Formen der Erinnerung.“

Wie nun sieht es aus, wenn selbst das Verdrängen erinnerungslos bleibt? Die beiden Formen der Erinnerung spiegelten sich, so von Braun, in der „symbolischen Geschlechterordnung“. Das „weibliche Gedächtnis“ – „wenn ich vom weiblichen Gedächtnis spreche, ist immer ein weiblich codiertes Gedächtnis gemeint“ – sei eine mündliche Tradition, die männliche Kultur hingegen gebunden an die Schrift. Und die Schrift fixiere den Kanon. Das Männliche also als Norm.

Die symbolische Geschlechterordnung habe neue Machtverhältnisse hervorgebracht, darauf will von Braun hinaus. Diese symbolische Ordnung sei bereits angelegt in der jüdischen und christlichen Religion. Und so folgt eine Tour de force über das Geschlecht Gottes, schwüle Ergüsse mittelalterlicher Klosterfrauen hin zum Verhältnis von Signifikant und Signifikat im hebräischen und griechischen Alphabet. Weil das griechische Alphabet die Vokale mit ausschreibe, sei es im Gegensatz zum Hebräischen auf die gesprochene Sprache nicht angewiesen. Damit wird die Mündlichkeit abgewertet, die „weiblich codierte Form der Überlieferung“ und mit ihr der sterbliche Körper, der spricht.

Im 19. Jahrhundert, so fährt von Braun fort, entstehe mit der Psychoanalyse ein neues Interesse am gesprochenen Wort. Der sprachlos gewordene Körper der Hysterikerin finde im Symptom seine Ausdrucksform. Damit erfülle dieser „hysterische weibliche Körper“ für den Kanon eben jene konstitutive Funktion, von der anfangs bereits die Rede war. Zugleich stelle er ein Problem dar, zu dessen Lösung der Kanon neu geschrieben werden müsse. Oder, wie Freud düpiert bemerkt: „Der hysterische Körper tut so, als gebe es die Anatomie nicht.“

Verwirrung mag sich verbreitet haben. Klug und beeindruckend in den Assoziationen scheint das Vorgetragene. Aber welche Praxis hält die Sprache der Abstraktionen bereit? Die „stille Post des weiblichen Gedächtnisses“ als Motor gesellschaftlichen Fortschritts? Ist die Position der Hysterikerin wirklich eine machtvolle, weil sie den Kanon subvertiert?

Welche Relevanz, so fragt man sich bei der von Hubschraubern begleiteten Fahrt nach Hause, hat eigentlich ein Diskurs, dessen Radikalität folgenlos bleibt? KATRIN KRUSE