Immer im Einsatz – ohne Lohn

Eltern behinderter Kinder machen mit Pflege und Betreuung oft einen Vollzeitjob. Anerkannt wird ihnen das von den Kassen jedoch nur umständlich und oft erst nach Jahren. Die Berliner Initiative „Eltern beraten Eltern“ geht nun in die Offensive

von CHRISTINE SCHMITT

Pia ist hungrig. Erwartungsvoll beobachtet sie ihre Mutter, die eine Schrippe mit Butter beschmiert und klein schneidet. Häppchen für Häppchen schiebt die 37-Jährige in den Mund ihrer Tochter. Pia (Name geändert) kaut langsam. Das sechsjährige Mädchen aus Charlottenburg ist spastisch gelähmt und da auch die Mundmotorik von der Spastik betroffen ist, fällt ihr das Kauen schwer, die meisten Speisen müssen püriert werden. „Mahlzeiten dauern bei uns manchmal schon eineinhalb Stunden“, seufzt die Mutter, während Pia ihren Kopf unkontrolliert nach vorne fallen lässt.

Pia ist schwer behindert. Sie kann nicht laufen, nur mit Unterstützung sitzen, kann nicht greifen und ist immer auf Hilfe angewiesen. Windeln wechseln, waschen, Zähne putzen, Haare kämmen, Pia zur Therapie bringen, sie tragen oder im Rollstuhl schieben, sie an- und ausziehen, sie ins Bett bringen, nachts mehrmals umlagern: „Ich bin immer im Einsatz“, meint ihre Mutter, „und trotzdem wird uns nicht die höchste Pflegestufe bewilligt.“ Seit drei Jahren kämpft die Familie um eine Höherstufung von Stufe zwei auf drei. Bisher ohne Erfolg.

„Ob einem Kind Pflegegeld zusteht, hängt nicht von Art oder Schwere der Erkrankung ab, sondern nur von seinem Hilfebedarf“, sagt die Berliner AOK- Sprecherin Gabriele Rähse. Dafür werden die Minuten zusammengezählt, die das kranke Kind mehr braucht. Für das Bad eines behinderten dreijährigen Kindes wird von 15 Minuten ausgegangen, da für ein gesundes gleichaltriges Kind zehn Minuten fürs Baden zählen, notieren die Gutachter nur fünf Minuten Mehraufwand. Um die Pflegestufe eins (205 Euro) zu bekommen, müsse ein krankes Kind mehr als 90 Minuten täglich mehr gepflegt werden als ein gesundes gleichaltriges, sagt die AOK-Sprecherin. Bei der zweiten Stufe (410 Euro) müssten es drei Stunden, bei der dritten Stufe (665 Euro) fünf Stunden Mehraufwand sein. Die Gutachten erstellt bundesweit der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK).

In Berlin und Brandenburg sind im vergangenen Jahr laut Hendrik Haselmann, Sprecher des MDK Berlin-Brandenburg 2.180 Kinder bis zu 14 Jahren begutachtet worden. Bei fast jedem dritten Kind „lag eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des Gesetzes nicht vor“. Die Ärzte des MDK empfahlen bei 41 Prozent der Fälle die erste Stufe, Stufe zwei sollten 20 Prozent und Stufe drei 9 Prozent der Kinder erhalten. „Wir sind schon mit Pias Behinderung und der ganzen Arbeit und Pflege belastet. Nun müssen wir auch noch um unser Recht auf Pflegegeld, das uns zusteht, mühselig kämpfen“, kritisiert die Mutter. Pias Familie ist nicht die einzige, die unzufrieden mit der Pflegeversicherung ist.

Die Berliner Initiative „Eltern beraten Eltern“ bietet jeden Dienstag Sprechstunden nur zu diesem Thema an. Etwa zehnmal klingelt das Telefon wöchentlich. Die Eltern wollen meist wissen, bei wem sie Pflegegeld beantragen müssen, was sie machen können, wenn sie mit dem Gutachten des MDK nicht einverstanden sind, und wie man einen Widerspruch einreicht. „Wir empfehlen, ein Pflegetagebuch zu führen, in dem jedes Detail aufgeschrieben wird“, sagt Angelika Ghaeni-Scheunemann von der Selbsthilfegruppe.

Vielen Eltern sei nicht klar, wie die Gutachter die Minuten zusammenzählen, erklärt Ghaeni-Scheunemann. „Die meisten Versicherungen informieren die Antragsteller nicht richtig.“ Da erzählten dann die Eltern den Ärzten des MDK, dass sie alle zwei Stunden mit ihrem lungenentzündungsgefährdeten Kind inhalieren, vergessen aber, dass sie es nachts umlagern müssen. Das Inhalieren sei eine medizinische Versorgung und bringe keine Minuten ein, das Umlagern sei eine pflegerische Leistung und zähle.

Auch Felix’ (Name geändert) Eltern sind schlecht auf die Pflegeversicherung zu sprechen. Ihr zweieinhalbjähriger Sohn ist körperlich und geistig behindert. Weil seine Muskeln zu schwach sind, kann er sich kaum bewegen, selbst sein Darm muss stimuliert werden, damit er einigermaßen arbeitet. Und er erbricht häufig, weshalb die Waschmaschine ständig voll ist. „Sogar Pflegestufe eins wurde abgelehnt“, sagt seine Mutter. Obwohl ihr Sohn nicht alleine essen, trinken, sich waschen und anziehen kann. „Außenstehende können sich das kaum vorstellen, aber wir sind den ganzen Tag mit der Versorgung unseres Sohnes beschäftigt, weil er ganz anders ist, als gesunde Kinder.“ Die Familie aus Reinickendorf führte ein detailliertes Pflegetagebuch und legte Widerspruch ein. Seit seinem zweiten Geburtstag bekommt er die Stufe zwei.

Larissas (Name geändert) Eltern hatten die Minuten genau ausgerechnet, die sie ihre Tochter rund um die Uhr pflegen, und beantragten Pflegestufe drei. Stufe zwei hatten sie seit ihrem zweiten Geburtstag. Die heute Neunjährige aus Köpenick hat einen Hirnschaden, ist nicht mobil, sie ist geistig behindert und als hilflos und blind eingestuft. „Seien Sie froh, dass sie überhaupt Stufe zwei haben, sagte der MDK zu mir“, ärgert sich Larissas Mutter noch heute. Aber sie ließ sich nicht beeindrucken und ging vor’s Gericht. Nach vier Jahren bekam sie Recht und eine Rückzahlung fürs vorige Jahr.

Eltern beraten Eltern, Telefon: 8 21 67 11