Viele wussten vom Öko-Giftskandal

Nitrofen in Biogeflügel: Behörden in Bundesländern meldeten nichts nach oben, obwohl sie schon vor Wochen Meldungen erhielten. Futtermittelhersteller GS agri gerät immer stärker In Bedrängnis. Putenfleisch nach Russland unterwegs

von NICK REIMER

Jetzt hat der Nitrofenskandal Russland erreicht. „Offenkundig wussten die Produzenten von der Verseuchung und wollten das Fleisch deshalb in Russland loswerden“, kommentierte der Fernsehsender NTW. Die Moscow Times zitierte gestern Russlands Vizepremier Alexej Gorodejew so: 230 Tonnen Nitrofen-belastetes Geflügelfleisch, das aus Niedersachsen nach Russland exportiert werden sollte, sei von den deutschen Behörden beschlagnahmt worden. Allerdings: Derzeit sind 19 Tonnen Nitrofen-belastetes Putenfleisch nach Angaben von Bundesverbraucherministerin Renate Künast auf dem Weg nach Russland. Die Behörden dort seien alarmiert worden.

Wenn es nur das wäre. Nach einer Telefonkonferenz zwischen Künast und den Landwirtschaftsministerien von Mecklenburg, Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen wurde gestern deutlich: Die Verseuchung ist wesentlich umfangreicher, als bislang angenommen. Renate Künast: „Mindestens 550 Tonnen belastetes Futtermittel sind in den Büchern der Oldenburger GS agri festgestellt worden.“ Und: Da der Betrieb nur 10 Prozent seiner Produkte an Biobauern vertreibt, könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch in der konventionellen Landwirtschaft Nitrofen-belastetes Futter zum Einsatz kam. Die GS Agri habe die verseuchten Produkte „wissentlich“ weiter vertrieben.

Klar ist mittlerweile auch, dass Behörden geschlampt haben. Sowohl die Veterinärbehörden der Landkreise Ammerland und Cloppenburg als auch die Staatsanwaltschaft Oldenburg wussten schon Anfang Mai Bescheid. Dort hatte sich am 2. Mai ein Landwirt selbst angezeigt, weil er Nitrofen in seinen Produkten nachgewiesen hatte.

Mecklenburg-Vorpommerns Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD) erklärte, offenbar sei mit Nitrofen-belasteter Weizen mit nicht kontaminiertem so vermischt worden, dass die Tiere pro Fütterung nur geringe Mengen des Krebs erregend Mittels zu fressen bekamen. In einem Fall sei von einem Kunden reklamiertes Putenfleisch vom Hersteller an andere Kunden weiterverkauft worden. „Das Ausmaß des Skandals ist noch nicht abzusehen“, so Backhaus. In Mecklenburg seien fünf Ökobetriebe gesperrt worden – Großbetriebe mit insgesamt 176.000 Legehennen, 22.000 Puten und 31.000 Masthähnchen. Damit hält das Land die meisten betroffenen Tiere. Die Zahl der gesperrten Betriebe in Nordrhein-Westfalen erhöhte sich auf sieben. Allein in Niedersachsen sind über 100 betroffen, auch Geflügelhalter in Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt dürfen nicht mehr verkaufen.

Doch nicht nur auf Produzentenseite zieht der Skandal immer größere Kreise. Erstmals tauchten nun auch Meldungen über belastetes Putenfleisch in bayrischen Naturkostläden auf. „Seit der BSE-Krise ist Pute in unseren Läden sehr nachgefragt“, erklärt Inge Asendorf, Tagwerk-Vorstandsmitglied. Weil es aber keinen regionalen Lieferanten gibt, habe Tagwerk Wurst und Rohstoff von den „Grüne Wiese Biohöfen“ aus Niedersachsen bezogen. „Anfang April gab uns ein Konkurrent den Tipp, dass die Ware Nitrofen enthalte. Wir haben sofort alles aus unseren sieben Verkaufsstellen zurückgerufen und eigene Tests in Auftrag gegeben.“ Das Ergebnis war positiv. Tagwerk informierte daraufhin den Lieferanten und die zuständige Lebensmittelbehörde in Augsburg. Die unternahm aber anscheinend nichts.

Ausgeräumt ist dagegen der Anfangsverdacht gegen die Brandenburger AVG aus Stegelitz-Flieth. Pikanterweise hatte die GS agri verbreitet, die AVG habe den Skandal ausgelöst. „Weder die Tests in einem Rostocker Labor noch im Frankfurter Landesamt für Verbraucherschutz noch die eines unabhängigen Berliner Kontrollinstituts haben positive Ergebnisse gebracht“, so Landwirtschaftsministeriums-Sprecher Jens-Uwe Schade.

Renate Künast will jetzt auch die konventionelle Landwirtschaft auf Nitrofen testen. Schon für morgen kündigte sie erste Ergebnisse an.