daniela böhle über Fernsprechen
: Andere Kinder hatten schlimme Eltern

Meine Großmutter hat immer gesagt, dass zum Streiten zwei gehören. Meiner Mutter gelingt es spielend allein

Meine Mutter erzählt immer davon, wie sie damals während ihres Studiensemesters in Freiburg zappelig in der Telefonzelle stand, wenn sie abends ihre Mutter, also meine Großmutter, anrufen musste. „Sie machte sich Sorgen, wenn ich nicht täglich anrief!“, erläuterte mir meine Mutter. „Aber ich habe diese Bitte so ungern erfüllt, dass ich immer aufs Klo musste.“ Psychosomatisch!? Diesen Wunsch habe ich meiner Mutter ausgetrieben, als ich zum ersten Mal allein in Urlaub gefahren bin und nach meiner Abreise eine volle Woche nicht angerufen habe. Ich glaube, ich hatte es einfach vergessen.

Heutzutage telefonieren wir nur miteinander, wenn wir das wollen, nicht aus Pflichtbewusstsein.

„Hallo, Kind“, sagt meine Mutter zur Begrüßung. „Wie geht’s dir denn so?“

„Gut, und dir?“

„Auch gut. Ich habe heute mal wieder darüber nachgedacht und festgestellt, dass ich all die großen Entscheidungen in meinem Leben richtig getroffen habe.“

„Herzlichen Glückwunsch, Mama“, sage ich. Das ist seit ein paar Jahren die Lieblingsbeschäftigung meiner Mutter: Bilanz ziehen. Die Bilanz fällt immer positiv aus. Sie hofft dann immer auf meinen Protest, damit sie sich mit mir streiten kann. Das erleichtert sie auf geheimnisvolle Weise. Eigentlich möchte sie sagen: Kind, mein Leben ist so entsetzlich langweilig.

„Sag mal, wie würdest du deine Kindheit beschreiben?“, fragte sie beim letzten Mal. Das gehört auch zum festen Repertoire. Sie fragt das alle paar Monate. Auch dann will sie sich streiten, und oft klappt das auch. Diesmal probiere ich es mit einem knappen: „Glücklich!“

Meine Mutter schweigt einen Augenblick, dann schimpft sie los: „Du meinst wohl, du kannst deine alte Mutter zum Narren halten!? Ich kann nicht mehr hören, dass du eine unglückliche Kindheit hattest!“

Ich bin immer wieder verblüfft. Meine Großmutter selig hat immer gesagt, dass zum Streiten zwei gehören. Meine Mutter ist vermutlich die einzige Person, der das ganz alleine gelingt.

„Du bist ein undankbares Stück“, geht der Einpersonenstreit weiter, „und ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt noch mit dir spreche!“ An dieser vertrauten Stelle sage ich manchmal: „Dann lass es doch, Mama.“ An milden Tagen versuche ich sie einfach abzulenken. „Wie würdest du denn meine Kindheit beschreiben?“, frage ich also zurück. Die nächste ungefähr halbe Stunde erzählt mir meine Mutter, wie sehr ich meine Mutter geliebt habe, wie oft ich als Kind gelacht habe und dass ich ständig geäußert habe, dass ich gern lebe.

Immer mal wieder ruft sie mich an, um mir Dinge über meinen Vater zu erzählen, auch, dass er nicht gern lebt. „Ich habe ihn gefragt, sag mal, lebst du eigentlich gern? Und er hat darauf gesagt, was soll das denn für eine Frage sein? Also, seit ich deinen Vater kenne, weicht er unangenehmen Fragen aus! Warum kann er nicht sagen, nein, ich lebe nicht gern? Warum ist dein Vater nur so ein seltsamer Mensch?“

An meinen Vater denke ich auch jetzt, während ich meiner Mutter dabei zuhöre, wie ich meine Kindheit fand. Früher dachte ich schlechter über ihn. Heute kann ich manchmal verstehen, warum er so ist, wie er ist.

Nach einer halben Stunde erinnert sie sich dann meist, dass ich andere Dinge über meine Kindheit erzähle als sie, und dann beginnt sie zu schimpfen. „Du wirst dich eines Tages an meine Worte erinnern, wenn dich dein Sohn genauso behandelt. Andere Kinder hatten wirklich schlimme Eltern, aber die sind alle nicht so undankbar wie du!“ Sie führt an diesem Punkt immer Schulkameradinnen von mir ins Feld, die behämmerte Eltern hatten, aber nicht daran dachten, weit wegzuziehen. Die kommen sonntags zum Kaffee.

„Hättest du mich als Kind gern verprügelt, damit ich jetzt sonntags zum Kaffee käme?“, frage ich meine Mutter. Jedes Mal hoffe ich, dass sie auf mein Argument eingeht. Ich habe einen ganzen Vorrat solcher konkreter Fragen. Leider schummelt sich meine Mutter immer drum herum. Einmal möchte ich hören: „Mit dem Holzlöffel hätte ich dich verdroschen, wenn mir das heute Sonntagsbesuche einbringen würde!“ Die weit weniger glaubwürdige Antwort „Natürlich ist es mir lieber, dass du sonntags nicht kommst, wenn ich dich dafür hätte schlagen müssen!“ kommt genauso wenig. Stattdessen ist dies der Startschuss für das Kapitel: Dein schlechter Charakter. Meine Mutter legt großen Wert auf ihre Kultiviertheit und es verblüfft mich regelmäßig, wie beleidigend sie werden kann. Daher ist es spätestens an dieser Stelle sinnvoll, das Telefonat zu beenden. Dabei gäbe es vorher schon einen guten Grund dafür. Sobald ich meine Mutter am Apparat höre, muss ich nämlich immer höllisch dringend aufs Klo.

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