„Letztlich war es meine eigene Entscheidung“

Erbrechen schien ihr die einzige Möglichkeit, nicht wieder dick zu werden. Und das wäre das Schlimmste. Wenn andere sagten, sie sei doch viel zu dünn, war das das schönste Kompliment. Sie fühlte sich besser, je dünner sie wurde. Dabei ging es ihr immer schlechter. Interview mit einer Bulimiekranken

„Schließlich wollte ich es meiner Mutter recht machen. Andererseits habe ich vielleicht erwartet, dass sie mich genauso akzeptiert, wie ich bin“

Sie war vierzehn, als es anfing, und das ist nun mittlerweile sechs Jahre her: Sie fand sich zu dick, mit ihren 68 Kilo bei 163 Zentimetern. Und ihre Klassenkameraden machten sich über sie und ihre Figur lustig, über das Mädchen, das eher zurückhaltend und unscheinbar war und dennoch den einen oder anderen „witzigen“ Spruch zu vertragen schien. Es gelang ihr schließlich, 15 Kilo abzunehmen, doch statt sich damit zufrieden zu geben, freute sie sich über das Lob der anderen so sehr, dass sie nicht mehr aufhören konnte. Sie wurde magersüchtig, wog bald nur noch 42 Kilo. Irgendwann wollte sie wieder normal essen, aber auf keinen Fall zunehmen. Sie probierte aus, wie es ist, sich den Finger in den Hals zu stecken und auf diese Weise die verhassten Kalorien wieder loszuwerden. Ein Teufelskreis begann. Seit beinahe fünf Jahren ist sie nun bulimiekrank. Sie isst und bricht, mehrmals täglich. Heute wiegt sie 56 Kilo, und hat das, was man eine „gute Figur“ nennt. Manchmal gelingt es ihr über Wochen, sich nicht den Finger in den Hals zu stecken. Ihre Stimmung schwankt zwischen aufbrausend temperamentvoll und ausgeglichen, was einige Menschen in ihrer Umgebung vor den Kopf stößt. Von ihren Gefühlen gibt sie wenig preis. Unsicherheit wird überspielt, Schwäche versteckt. Es scheint beinahe so, als solle niemand etwas von dem weichen Kern merken, den sie in sich trägt. Wenn sie lacht, dann laut. Sie weiß alles über ihre Krankheit. Nur nicht, wie sie davon loskommt.

Interview von KATHARINA MOHR und KATHRIN EMEIS

Jugendstil: Meinst du, dass nur die Unzufriedenheit mit deinem Körper zu der Sucht geführt hat oder könntest du dir vorstellen, dass auch seelische Konflikte anderer Art dazu beigetragen haben?

Bestimmt hat auch die Scheidung meiner Eltern im Jahr 1993 eine Rolle gespielt, ebenso wie die Tatsache, dass mein Vater Alkoholiker war und meine Eltern deshalb extreme Konflikte hatten. Ich fühlte mich zwischen beiden hin- und hergerissen. Das Verhalten meiner Mutter, bei der ich nach der Scheidung lebte, ist wohl auch nicht unwichtig im Hinblick auf meine Krankheit.

Inwiefern?

Sie hat mir immer sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie es schön und wichtig fände, eine schlanke Tochter zu haben. Ich fühlte mich dadurch unter Druck gesetzt, schließlich wollte ich es ihr ja recht machen – andererseits habe ich vielleicht erwartet, dass sie mich genauso akzeptiert, wie ich bin. Meine Mutter ist sehr dominant. Mittlerweile komme ich damit ganz gut zurecht, aber wenn ich früher nicht getan habe, was sie wollte, habe ich immer Ärger bekommen.

Also hat deine Mutter deinen Wunsch, abzunehmen, unterstützt?

Oh ja, sie hat dementsprechend gekocht. Das hat es mir natürlich erleichtert, auf normalem Wege an Gewicht zu verlieren. Und sie übte auch Kontrolle aus, indem sie genau darauf achtete, was ich aß und dafür sorgte, dass es beispielsweise bei uns zu Hause keine Süßigkeiten mehr gab. Dafür war sie dann auch sehr stolz darauf, dass ich so viel abgenommen habe.

Wann hast du realisiert, dass dein Abnehmen zu Magersucht beziehungsweise Bulimie geworden ist?

Als ich die Bulimie angefangen habe, wusste ich es. Mein Wunsch, dünner zu werden, war bereits viel zu ausgeprägt und mein Verhalten krankhaft.

Und hat deine Mutter das bemerkt?

Erst nachdem ich ihr erzählt habe, dass ich esse, um mich anschließend zu übergeben.

Wann und warum bist du zu deiner Mutter gegangen?

Etwa ein oder zwei Monate nach Beginn der Bulimie. Ich hatte mich damals noch relativ gut unter Kontrolle, und deshalb denke ich heute, dass man es als Trotzreaktion bezeichnen kann: Ich wollte meiner Mutter eins auswischen. Ich fühlte mich so unwohl und konnte mich selbst nicht leiden, und sie wollte doch immer, dass ich dünn bin. Ich wollte ihr zeigen, dass sie mich so weit gebracht hat. Dass sie schuld ist an meiner Krankheit.

Also wolltest du deine Mutter dafür verantwortlich machen, dass du dich in dein Abnehmen so reingesteigert hast?

Damals war das wohl meine Absicht, ja. Heute würde ich ihr aber längst nicht mehr die ganze Schuld geben – sicher war sie recht maßgeblich daran beteiligt, indem sie mich in meinem Gewichtsverlust so freudig unterstützt hat, aber genauso könnte ich sagen, dass die Gesellschaft mit ihren Idealbildern dazu beigetragen hat, dass mein Wunsch so extrem wurde. Letztendlich aber war es meine eigene Entscheidung, damit anzufangen, und diese Entscheidung habe ich ganz bewusst getroffen. Zwar konnte ich damals nicht alle Konsequenzen abschätzen, aber ich wusste sehr wohl, wie ich durch die Krankheit auf mich aufmerksam machen könnte: Ich würde abnehmen, und – sozusagen ein positiver Nebeneffekt– alle würden sich um mich kümmern.

Wenn du von den Idealbildern der Gesellschaft sprichst: Hast du einen Hass auf schlanke Menschen entwickelt?

Nein, Hass und auch Ekel hatte ich eher dicken Menschen gegenüber. Schlanke bewunderte ich. So entstand ja der Wahn, ich müsste sie übertrumpfen. Ich wollte noch schlanker und damit besser zu sein als sie. Ich habe das Essen und das darauf folgende Erbrechen immer weiter intensiviert. Aus heutiger Sicht kommt es mir verrückt vor, aber damals war es so, dass ich mich immer besser fühlte, je dünner ich wurde, und je schlechter es mir dadurch körperlich eigentlich ging.

Hast du in dieser Situation die Aufmerksamkeit deines Umfelds genossen?

Natürlich war es schön für mich, wenn die Leute sagten: Du bist ja viel zu dünn, denn das bestätigte mich in dem, was ich tat: Ich aß und übergab mich, um abzunehmen, und anscheinend hatte ich damit Erfolg. Von meinen Freunden wusste eigentlich keiner, dass ich an Bulimie leide. Vielleicht haben manche etwas geahnt, aber wenn mich jemand darauf angesprochen hat, habe ich immer abgeblockt und geleugnet. Einerseits wollte ich zwar, dass man sich um mich kümmerte und sich auch Sorgen machte, andererseits war ich aber nicht dazu bereit, mit den anderen in Kontakt zu treten. Das Problem gehörte mir und ging Außenstehende nur solange etwas an, wie ich mich nicht mit der Krankheit auseinandersetzen musste. Ich hatte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Meine Mutter wollte, dass ich sofort damit aufhörte. Sie sorgte sich um meine Gesundheit. Aber ich sah nur ihren „Wunsch“, den ich ihr nicht erfüllen konnte, weil sie dadurch wieder „die Stärkere“ geworden wäre und über mich und meinen Körper gesiegt hätte.

Hast du denn damals etwas gegen deine Sucht unternommen?

Nein. Es war auch in dem Sinne gar nicht notwenig, denn ich war ja mit meinem Zustand ganz „zufrieden“. Erst viel später wurde mir klar, was ich meinem Körper eigentlich antat, doch da war es bereits zu spät, um einfach wieder aufhören zu können. An Hilfe von Freunden oder sogar Ärzten habe ich damals überhaupt nicht gedacht. Dieses Bedürfnis, sich anderen anzuvertrauen und innerhalb der Krankheit eine gewisse Geborgenheit zu genießen, die mit der Anerkennungssucht von früher nichts mehr gemeinsam hatte, hat sich erst später entwickelt.

Wann und warum hast du denn dann schließlich doch mit anderen gesprochen?

Es hat ungefähr zwei Jahre gedauert, bis ich eingesehen habe, dass ich es alleine nicht schaffen würde. Es ging mir körperlich nicht mehr so gut, ich war immer schlapp und müde, bekam meine Tage nicht mehr, meine Zähne haben sehr unter dem ständigen Erbrechen gelitten, meine Fingernägel wurden brüchig und meine Haare dünn. Trotzdem bin ich nie auf jemanden zugegangen. Aber immerhin wies ich die Annährungsversuche der anderen nicht länger ab, sondern begann langsam, über meine Situation zu sprechen. Ich denke, ich erhoffte mir durch die Gespräche Verständnis für das, was ich tat, wobei ich mir aber noch immer vollkommen sicher war, dass niemand etwas an meinem Verhalten und meiner Unzufriedenheit mit mir ändern konnte. Die einzige, die das tun konnte, war ich selbst – aber es war mir einfach nicht möglich, mit dem Erbrechen aufzuhören; dann hätte ich ja weniger essen müssen, um nicht wieder dick zu werden.

Hattest du Angst davor, wieder dick zu werden?

Das Schlimmste, was ich mir damals vorstellen konnte, war, wieder zuzunehmen. Ich hatte fast schon panische Angst davor. Mit meinem Gewicht von 42 Kilo war ich eigentlich ganz zufrieden, es hätte eher noch etwas weniger sein dürfen. Trotz intensiven Sports nehme ich sofort zu, wenn ich mal etwas mehr als normal esse, deswegen sah ich keine Alternative zur Bulimie.

Inwiefern haben deine Eltern zu diesem Zeitpunkt versucht, dir aus deiner Sucht herauszu helfen?

Mein Vater wusste eigentlich nicht mehr über meine Krankheit, als dass ich sie hatte. Seit der Scheidung meiner Eltern hatten wir nur noch sehr wenig Kontakt und sahen uns so gut wie nie, da er auch nicht mehr in Hamburg lebte. Es war aber mittlerweile nicht mehr zu übersehen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Und wenn wir uns dann mal trafen, versuchte mein Vater, mit mir darüber zu sprechen und führte das in Telefonaten fort. Dagegen wehrte ich mich. Ich war der Meinung, dass mein Vater, der ohnehin nie wirkliches Interesse für mich gezeigt hatte, kein Recht hatte, sich da einzumischen. Es ging ihn nichts an.

Und deine Mutter?

Meine Mutter wollte, dass ich eine Psychotherapie mache, ich sollte einmal in der Woche zu einem Gespräch gehen. Von einem Krankenhausaufenthalt hielt sie nichts. Sie wollte nicht, dass alle Leute mitkriegen, dass ich ein derart tief sitzendes Problem hatte. Letztendlich bin ich zu einer Therapeutin gegangen. Nicht, weil ich glaubte, sie würde mir helfen, sondern um dem ständigen Gejammer meiner Mutter zu entgehen.

Hat deine Therapie trotzdem geholfen?

Ja, in gewisser Weise sicherlich. Ich habe gelernt, verschiedene Ursachen meiner Krankheit zu erkennen und mich mit ihnen auseinander zu setzen. Ich habe erkannt, dass ich mein Essverhalten grundlegend ändern müsste, und dass meine Sucht im Grunde genommen keine Lösung für meine Probleme ist, sondern sie nur noch verschlimmert.

Und wie geht es dir heute?

Ich würde sagen, dass ich noch immer an Bulimie leide, aber in einer sehr viel schwächeren Form als damals. Heute gelingt es mir zeitweise, über mehrere Wochen zu essen, ohne mich zu erbrechen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn ich aus meinem normalen Umfeld herauskomme, also beispielsweise im Urlaub, aber mittlerweile immer öfter auch in meinem gewohnten Alltag. Nur, wenn ich sehr angespannt bin und mich überfordert fühle, wird die Bulimie wieder etwas stärker.

Meinst du, dass du in der Lage bist, ohne Klinikaufenthalt endgültig von der Krankheit loszukommen?

Ja, ich denke schon, dass ich das irgendwann schaffe – ich hoffe es zumindest. Ich bin noch immer der Meinung, dass ich mein Problem für mich selber lösen muss; andere Menschen können mich dabei höchstens unterstützen. Einen Klinikaufenthalt halte ich für wenig hilfreich, sicher würde ich in die alten Muster zurückfallen, sobald ich wieder in meinem normalen Umfeld wäre.

Welche Probleme bestehen denn zum jetzigen Zeitpunkt in deinem „normalen Umfeld“?

Das Zusammenleben mit meiner Mutter gestaltet sich für mich – und vermutlich auch für sie – noch immer sehr schwierig. Meine Mutter duldet wenig Widerspruch und Eigensinn anderer Persönlichkeiten. Sie möchte mich gerne in von ihr vorgegebene Richtungen zwingen, beruflich wie „menschlich“. Sobald ich mein Abitur habe, werde ich deshalb von zu Hause ausziehen. Ich glaube, dass diese Trennung es mir erleichtern wird, endgültig von der Sucht loszukommen und mein Leben endlich in den Griff zu bekommen. Vielleicht kann ich dann auch endlich Probleme verarbeiten, mit denen ich nie wirklich fertig geworden bin – wie etwa die Scheidung meiner Eltern.

Von wem erhältst du heute Unterstützung?

Von Freunden, die einfach zuhören, wenn ich manchmal das Bedürfnis habe über mich und meine Krankheit zu sprechen. Aber insgesamt spielt das für mich keine so große Rolle, ich möchte dieses Problem für mich selber lösen.

Wie stellst du dir dein Leben ohne Bulimie vor?

Ich bin heute der Überzeugung, dass eine ausgewogene Ernährung in Kombination mit Sport ausreicht, um eine gute Figur zu haben. Es wird lange dauern, bis ich wieder normal essen können werde, ich nicht mehr überlegen muss, was ich jetzt noch essen kann ohne zuzunehmen und was nicht. Ich weiß, dass mein Gewicht von damals eindeutig zu wenig gewesen ist, dass mein Essverhalten krankhaft und schädlich war, und dieses Wissen erleichtert es mir, Abstand von meiner Sucht zu bekommen.

Wiegst du dich täglich?

Die Zahl auf der Waage spielt für mich keine so große Rolle mehr wie in meinen schlimmsten Zeiten, aber ich wiege mich trotzdem noch immer jeden Tag. Ich weiß mittlerweile, dass es letzten Endes egal ist, wie viel ich wiege, solange ich mit meiner Figur als Teil meiner Person zufrieden sein und damit leben kann. Aber manchmal, wenn es mir seelisch schlecht geht, vergesse ich das und finde mich wieder innerhalb des Teufelskreises: Es geht dir schlecht, weil du zu dick bist, also nimm ab! Ich wünsche mir, dass für mich nicht mehr länger immer mein Gewicht im Vordergrund steht und mein ganzes Leben bestimmt, sondern dass ich endlich herausfinden kann, wer ich als Persönlichkeit eigentlich bin – egal, mit wie vielen Kilogramm.