Gezügelter Appetit

Wenn essen zur Obsession wird: Alle Gedanken kreisen um die Nahrung, und wie man sie vermeidet. Oder wieder los wird

von KATHRIN EMEIS und KATHARINA MOHR

Über fünf Prozent aller Mädchen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren leiden an Magersucht oder Bulimie. Die Dunkelziffer der Essgestörten wird mindestens auf das Doppelte geschätzt.

Auch ältere Frauen und junge Männer sind zunehmend betroffen. In einer Gesellschaft, in der nur schlank schön ist, und in der es Anerkennung nur gegen Leistung gibt, geraten ungefestigte Persönlichkeiten leicht in einen Teufelskreis: Durch Nahrungsverzicht stellt sich schnell ein leichter Gewichtsverlust ein. Wir sind zufrieden mit uns, das Verhalten, weniger zu essen, wird verstärkt. Ein biologischer Mechanismus kommt ins Spiel: Wirkt Nahrung üblicherweise belohnend – man denke an die Glückshormone, die Schokolade freisetzt –, so sorgt nun der Erfolg des Nahrungsverzichts für eben diese Glückshormone. Denn schon bald wird das Hungergefühl nicht mehr in „Ich muss etwas essen“, sondern in „Ich kann der Versuchung widerstehen“ übersetzt. Das Unterbewusstsein nimmt diesen Mechanismus auf und setzt Glückshormone nur noch beim Nichtessen frei.

Von nun an kreisen die Gedanken nur noch um Nahrung und ihre Vermeidung. Während ein Magersüchtiger nahezu nichts mehr zu sich nimmt, wechseln bei der Bulimiekranken Hungerperioden mit Heißhungerattacken. Nach einer Phase des Hungerns werden große Mengen kalorienreicher Nahrung verschlungen und anschließend absichtlich erbrochen – anfangs steckt die Betroffene dafür noch den Finger in den Hals, später kann das Erbrechen allein durch Gedanken ausgelöst werden.

Doch auch wenn sie auf diese Weise die Kalorien wieder loswird, nach einem Essanfall ist eine Bulimiekranke von Scham und Schuldgefühlen erfüllt. Das Gefühl, sich selbst nicht kontrollieren zu können, wird meist durch die krankhafte Furcht vor einer Gewichtszunahme verstärkt; diese Menschen wiegen sich deshalb mehrmals täglich.

Im Gegensatz zu Magersüchtigen, die ihre Krankheit oft noch leugnen, wenn sie bereits äußerts dürr sind, wissen die meisten Bulimiekranken um ihre Störung. Trotzdem ist es ihnen ohne fachkundige Hilfe nur selten möglich, sich aus der Sucht zu befreien. Denn weil sie ihre Ess-Brech-Sucht geheim halten wollen, geraten sie in eine soziale Isolation, die ihr Selbstbewusstsein weiter schwächt. Die Ursachen der Krankheit sind noch nicht endgültig geklärt. Neben dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal tragen wohl auch so genannte Körperschemastörungen (man empfindet sich selbst als zu dick) dazu bei.

Auch Mangel an Selbstwertgefühl oder fehlende Identität können Auslöser sein: Hin- und hergerissen zwischen dem „so will ich sein“ und „so bin ich“, entsteht innerhalb des Konflikts zwischen perfektionistischen Ansprüchen und Versagensängsten ein unerträglich werdender Spannungszustand. Auch familiäre Verhaltensmuster spielen eine Rolle, wenn statt Gefühl nur Leistung zählt. Auf Dauer führt Bulimie neben dem seelischen Leid auch zu schweren körperlichen Schäden: Durch das ständige Erbrechen werden die Mundwinkel wund, Magensäure greift den Zahnschmelz an und verursacht Schleimhautentzündungen in Speiseröhre und Magen. Die Mangelernährung der Hungerphasen schädigt Herz und Kreislauf und macht die Knochen brüchig; bei Frauen bleibt oft die Menstruation aus. In der Psychotherapie erforschen Bulimiekranke die Entstehungsbedingungen für ihr Verhalten und lernen, Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und einzufordern. Für Krisensituationen werden Bewältigungsmöglichkeiten erarbeitet, gleichzeitig ein neues Essverhalten eingeübt. Etwa die Hälfte der behandelten Patienten wird wieder gesund. Bei einem Drittel bessert sich die Essstörung nach etwa zwei bis drei Jahren, jeder Fünfte kann sich nicht aus der Sucht befreien. Von den Magersüchtigen hungern sich über zehn Prozent zu Tode. Die Übrigen haben meist ihr Leben lang Essprobleme.