berliner szenen Wunsch und Vernunft

Opfer für den Fußballgott

Die WM ist wie ein äußerst langsam wirkendes Rauschgift, das plötzlich zu wirken beginnt, wenn man längst vergessen hat, dass man es genommen hat. Am Tag, bevor es losgeht, füllt man plötzlich leicht anhysterisiert zwei Wettscheine aus. Auf dem einen tippt man vernünftig, auf dem anderen Wünsche. Beides hält man nicht durch; denn die Vernunft protestiert gegen den Wunsch und umgekehrt. Doch das Wettgeld ist ein Opfer, das man dem Fußballgott bringt, es wird dafür sorgen, dass die WM toll wird. In der Kreuzberger Langhaarigenkneipe, in der ich oft Flipper spiele, werden komplizierte Wetten abgeschlossen – wie oft wird die deutsche Mannschaft in ihren Ersatztrikots auflaufen, welcher Spieler muss nach Hause, weil er im Mannschaftsquartier „eine Alte gepoppt“ hat. Eine Freundin, die auch Fußball spielt, ruft an und fragt, ob ich das Wochenende nach Dolgenbrodt kommt, wo das Kreuzberger Antiquariat „Kalligramm“ sein 15-jähriges Bestehen feiert. Geht nicht, weil’s in dem Gasthaus kein „Premiere“-Fernsehen gibt und man das Spiel zwischen Argentinien und Nigeria nicht verpassen will, das Sonntagmorgen angepfiffen wird. Weil dieses Spiel hier nur von wenigen angeschaut wird, wird es sicher großartig werden. Abends erdreisten sich die „Arkonahöfe“ in Mitte via E-Mail zu behaupten, sie würden „alle relevanten Spiele“ zeigen. „Alle relevanten Spiele“, ha! Von den 37 Spielen, die ohne deutsche Beteiligung stattfinden, werden 3 gezeigt. Weder Brasilien noch die Gastgebermannschaften kommen vor. Das ist Rassismus, Globalisierungs- und Instantfußballgemeinheit, eine Reader’s-Digest-Version der WM für Die-größten-Hits-der-80er-Jahre-Plattenkäufer. So ist die Situation! DETLEF „EMILE“ KUHLBRODT