zukunft des nahverkehrs
: STEFAN RAMMLER über Nähe und Distanz im Nahverkehr

Die Enge in der Menge

„Fahrt alle Taxi!“ war der Titel eines Kommentars von Andreas Knie, Techniksoziologe an der TU Berlin, an dieser Stelle im Februar anlässlich des 100. Jubiläums der Berliner U-Bahn. Die taz diskutiert aus diesem Anlass – immer samstags – streitwürdige Thesen zur Zukunft des Nahverkehrs. Zuletzt schrieb Markus Petersen über die Stadt als Beute der Privatisierer.

„Vor der Ausbildung der Omnibusse, Eisenbahnen und Straßenbahnen“, schrieb der Sozialphilosoph und Stadtforscher Georg Simmel zu Beginn des letzten Jahrhunderts, waren Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang anzublicken, ohne miteinander zu sprechen. Simmel ist ein Zeitzeuge der Wandlungen der kleinen Garnisionsstadt Berlin zur Weltstadt. Kaum jemand hat die sozialpsychologischen Veränderungen, die der damit verbundene Massenverkehr und die insbesondere durch ihn hergestellte Öffentlichkeit um die Jahrhundertwende mit Macht mit sich brachten, so treffend beschrieben: „Das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen Verkehrs wären ohne psychologische Distanzierung unerträglich.“

Jene Wahrung der Grenzen durch ein Set von gesellschaftlich mehr oder minder akzeptierten Verhaltensregeln ist stets eine prekäre Angelegenheit. Dies gilt besonders dort, wo große und eilige Menschenmengen auf relativ kleinem Raum aufeinander treffen, wie die Atome in kochendem Wasser. Zu unterschiedlich sind die Menschen; charakterlich, kulturell, hinsichtlich ihrer jeweiligen momentanen Stimmung, ihrer Ziele und körperlichen Befindlichkeit, als dass die Wahrung des persönlichen Nahraums stets und überall gelingen könnte. Wer hat nicht selbst schon einmal unter der oft unerträglichen Dichte der „Menge in der Enge“ gelitten, insbesondere in den Stoßzeiten des Berufsverkehrs. Der Nahkampf beim Ein- und Aussteigen, das Gerangel um einen Sitz- oder Stehplatz, die leminghaften Menschenströme in schlechtgelüfteten Tunnels und Überführungen der U- und S-Bahnen, schließlich das Gefühl des Ausgeliefertseins, wenn die Fahrt ausgerechnet unter der Erde stockt, während man sich zwischen Kampfhund und Kinderwagen eingekeilt sieht. Das alles kann die Nerven bis zum Zerreißen strapazieren. Selbst ein böser Blick, die als unangenehm empfundene „Aura“ eines Menschen, Gerüche und Geräusche können dann schon schnell als „territoriale Übertretung“, als mehr oder minder gewaltsames Eindringen in die individuell und situativ unterschiedlich weit ausgreifenden „Reservate des Selbst“ empfunden werden. Ganz zu schweigen von der rein körperlichen Nähe, die nicht alle immer gut aushalten können.

Aus der Sicht der Sozialpsychologie spielt diese „Privatheitsregulation“, also die Wahrung der individuell und auch kulturell unterschiedlich ausgeprägten Scham-, Peinlichkeits- und Distanzgrenzen, eine zentrale Rolle für das Gelingen unübersichtlicher sozialer Situationen wie sie der öffentlichen Verkehr mit sich bringt. Dass sie gerade dort nicht immer gelingt, ist eines seiner Akzeptanzprobleme, insbesondere dann, wenn die Verkehrsteilnehmer frei wählen und also auch das Auto als Alternative nutzen können. Der „Reizschutzpanzer“ Auto garantiert den Wunsch nach persönlicher Distanz und Komfortaspekte wie Ruhe und Ungestörtheit in einem Maße, welches der öffentliche Verkehr bislang nicht erreicht.

Nun nimmt man aber an, dass es schätzungsweise dreimal so einfach und billig ist, einen Passagier als Kunde des öffentlichen Verkehrs zu halten, als ihn zum Umsteigen vom Auto zu bewegen. Deswegen erscheint es lohnenswert, über eine moderne Angebotsstrategie nachzudenken. Einleuchtend erscheinen eine geschicktere Organisation von Bahnhöfen und Umsteigesituationen. Auch pfiffige Designs, etwa eine kleinteilige und nach unterschiedlichen Bedürfnissen der Fahrgäste gestaltete Gliederung des Wageninterieurs und der Wagenfolge können dazu beitragen mehr Privatheit und Komfort herzustellen. Warum nicht ein Wagen nur für Handynutzer, einer für Hundebesitzer, einer für Radfahrer und einer für diejenigen, die mit dem Walkman die Sitznachbarn mitunter zum Wahnsinn treiben? Auch hat man von Frauen schon häufig den Wunsch nach getrennten Sitzflächen gehört, um sich vor der raumgreifenden Breitbeinigkeit männlicher Sitznachbarn auf ein eindeutig markiertes Territorium zurückziehen zu können. Vieles ist denkbar. Mit Fantasie und dem ehrlichen Wunsch, die Kunden auch als solche ernst zu nehmen und nicht als reines Logistikproblem, kann schon mit kleinen Maßnahmen viel erreicht werden. Letztlich geht es darum, den kollektiven Verkehr als lebenswerten und für die Stadtöffentlichkeit grundlegenden und unentbehrlichen sozialen Begegnungsraum zu erhalten.

Stefan Rammler ist Politologe, Soziologe und Mitglied der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin.