Stop and go am Joch

Mitte Juni trieben die Bauern des Südtiroler Schnalstals rund 2.000 Schafe über das 3.019 Meter hohe Similaunjoch zu den satten Sommerweiden im Nordtiroler Ötztal: eine strapaziöse Tour

Jetzt will er einfach haben, was ihm drunten im Tal so sehr fehlt: „mei Ruah“

von BURKHARD JUNGHANSS

Allmählich beginnt es zu dämmern. Ein schöner Sommertag kündigt sich an, wundervoll rosarot und blauviolett schimmert im ersten Licht der ewige Schnee auf den Gipfeln ringsum. Gut 600 Schafe drängeln aus ihrem Pferch, trollen sich, eingehüllt in eine Klangwolke aus Geblök, Schellengeläut und Hundegebell, bergan in den lichten Lärchenwald. Noch ein wenig verschlafen Fortunat Gurschler, der Hirte, und vier Treiber hinterher. Die Hunde sind um fünf Uhr in der Früh schon hellwach, bringen hechelnd Nachzügler zur Räson, die sich beim Grasen vertrödeln.

Zum Bummeln ist jetzt keine Zeit: Eine zwölfstündige Tour von rund 25 Kilometern steht bevor, etwa 1.300 Höhenmeter sind zu bewältigen – Mitte Juni werden, wie seit Urväterzeiten, Schafe aus dem Südtiroler Schnalstal über das 3.019 Meter hohe Similaunjoch auf die futterreichen Sommerweiden im Nordtiroler Ötztal getrieben. Heuer sind es gut 2.000 Stück, die, aufgeteilt in drei Herden, diesen strapaziösen Marsch antreten. Viele Generationen haben hier ihre Spuren hinterlassen, seit ungefähr 6.000 Jahren: Auch „Ötzi“ ging diesen Weg, und manches deutet darauf hin, dass er ein Hirte gewesen ist.

Von den Hunden umkreist und vorangetrieben, wandern die Pamper durch ein sanft geschwungenes Hochtal hinauf zum Similaun. Gegen sieben Uhr gibt es eine ordentliche Jause: Beim Frühstück blieb nur Zeit für eine eilige Tasse Kaffee, jetzt tun Vintschgauer Brot, Speck und Schafswurst richtig gut. Türkisgrün leuchtet der Vernagter Stausee unten im Tal, doch das ist für Gurschler jetzt schon Welten entfernt. Bis Mitte September wird er mit seinen „Pamper“, so heißen die Schafe hier, in der Bergeinsamkeit bleiben.

Gestern Nachmittag gab es richtig Trubel im stillen, hintersten Winkel des Schnalstals: Schafbesitzer aus dem ganzen Vintschgau transportierten ihre Tiere auf Kleinlastern und Jeeps nach Vernagt. Mit viel Hallo und unter der Fachsimpelei der Zaungäste wurden die Pamper mit bunten Sprühfarben markiert und für den Übertrieb eingeteilt: Das „Schafescheiden“ ist ein ordentliches Stück Arbeit, doch danach gibt es Würstl und Erbsensuppe, reichlich Bier und Obstler für die Treiber, und der Götsch-Johann spielt Ziehorgel dazu.

Nach einer kurzen Nacht geht es am nächsten Morgen hinauf in die Berge. Unserem Trupp voran marschieren Gurschler und die „Schellerin“, ein Mutterschaf, dessen Glockenbimmeln die Herde vertrauensselig folgt. Grüppchenweise ziehen die Schafe bergan, überqueren Bäche, Geröll und die ersten Schneefelder – der schwierigste Abschnitt des Übertriebs beginnt: ein Schwindel erregender Steig hinauf zum Similaunjoch, der schon manches Tier das Leben kostete. Mit energischem Hööee! und Löck-löck! bringen die Treiber die Vorhut auf Linie. Zögernd folgen die übrigen Schafe, bedrohlich klackern Steine zu Tal. Im Stop-and-go-Rhythmus schiebt sich das Wollband steil bergan. Mühsam kämpfen die Pamper sich durch den Firn, brechen immer wieder ein, jämmerlich blöken die Lämmer und halten sich dicht hinter den Mutterschafen.

Jetzt sollten Treiber und Hunde am besten überall gleichzeitig sein. Ganz oben, wo der Steig durch ein Labyrinth bizarrer Felszacken führt, gibt es einen Stau: Panik droht, wobei verängstigte Tiere abstürzen können. Diesmal geht alles gut, und gegen Mittag marschieren die Pamper wohlbehalten durch die enge Felsengasse hinauf zur Similaunhütte.

Dort überspannt ein strahlend blauer Himmer blendend weiße, von Neuschnee überpuderte Gletscherfelder. In 3.019 Meter Höhe ist die Luft dünn. Erschöpft und mit dampfenden Leibern ruhen die Schafe sich aus. Die Treiber sind heilfroh: So prima wie heuer war das Wetter lange nicht, in manchen Jahren machen Nebel und Schnee den Weg zur Qual. Schaudernd denken die Männer an den 16. Juni 1979 zurück: Ein Wettersturz hatte einen Meter Schnee hingeschmissen, Lawinen und Sturm machten den Rückweg unmöglich, mehr als 70 Lämmer erfroren: „Des wor a trauriger Tag“, erinnert sich Gurschler.

Die Mittagsrast ist vorüber, kläffend scheuchen die Hunde die Herde auf. Weit und weiß glitzert der Niederjochgletscher in der Mittagssonne. In einer langen, feierlich anmutenden Prozession ziehen die Schafe hinab zu ihren Weidegründen: ein anrührendes, archaisches Bild. Bald wird die karge Landschaft aus Schnee, Stein, eisigen Bächen und Krüppelholz einladender. Bei der Martin-Busch-Hütte locken die ersten Almen, die Pamper trappeln im Eiltempo hinunter ins Ötztal. Es geht gegen fünf Uhr, wir sind am Ziel.

Fortunat Gurschler hockt sich erst mal ins Gras, seinen Hütehund Beppi an der Seite. Zufrieden schweift sein Blick über die saftig grünen Sommerweiden voller Labkraut, Frauenmatel und Ampfer, Löwenzahn, Thymian und Ehrenpreis: ein Pamper-Schlaraffenland. 6.000 Hektar davon gehören Schnalser Bauern, deren Vorfahren im Jahr 1415 mit den Bauern aus Vent einen Weidenrechtsvertrag schlossen: „Das Weiderecht im Ötztal wird von uns Schnalsern mit Stolz aufrechterhalten, und mit der Schafwirtschaft geht’s in letzter Zeit gar nicht so schlecht“, sagt Konrad Götsch, Obmann der „Alm-Interessenschaft“, der 21 Bauern angehören. Deren Anteile werfen alljährlich ein hübsches Sümmchen ab: Jedes auf der Sommeralm gehütete „Einnahmeschaf“ bringt 10.000 Lire Weidegeld, Mutterschafe sponsert die Europäische Union mit 60.000 Lire, ein Zuchttier wechselt für eine Million, ein Lamm für 100.000 Lire den Besitzer.

Dass sich reichlich Nachwuchs einstellt, bis es im September retour ins Schnalstal geht, hofft auch Gurschler. Den siebten Sommer arbeite er hier schon als Hirte, erzählt er. Ab morgens um fünf wird er jeden Tag auf den Beinen sein, wird Lecksalz austeilen, mit seinem „Gucker“ Ausschau halten nach Schafen, die sich verlaufen haben, neu geborene Lämmer einfangen und markieren. Mehr ist ihm nicht zu entlocken, dem wortkargen Gurschler-Fortunat: Jetzt will er einfach haben, was ihm drunten im Tal so sehr fehlt: „mei Ruah“.