Spiel mit dem atomaren Feuersturm

Eine Studie des Pentagon weist die indische und pakistanische Öffentlichkeit erstmals auf die möglichen Folgen eines Atomkriegs hin. Die Regierungen beider Länder unternehmen nichts, um ihre Bevölkerungen vor den Gefahren zu warnen

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Eine neue Studie des US-Verteidigungsministeriums, so berichteten in den letzten Tagen südasiatische Zeitungen, berechnet die Folgen eines Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan. Sie kommt erwartungsgemäß zu katastrophalen Ergebnissen. Jedes der beiden Länder verfügt, so nimmt die Untersuchung an, über „mehrere Dutzend“ Atombomben mit einer Sprengkraft von jeweils der Stärke der Hiroshima-Bombe. Ein offener nuklearer Schlagabtausch würde neun bis zwölf Millionen Menschen sofort töten. Weitere Millionen würden danach Feuerstürmen und Strahlung, später Hungersnöten und Epidemien zum Opfer fallen.

Es war das erste Mal, dass das Publikum des Subkontinents mit solchen Berechnungen konfrontiert wurde. Weder die Regierungen noch die Medien haben sich in den vier Jahren seit den Atomversuchen von 1998 darum gekümmert, ihre Bevölkerungen über die Gefahren eines Atomkriegs zu informieren. Stattdessen wurden die Nuklearversuche als nationale Errungenschaft gepriesen. Bedenken über eine drohende Massenvernichtung wurden mit dem Hinweis beiseite gewischt, dass die nukleare Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR ja auch keinen atomaren GAU produziert habe.

Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die atombestückte Feindschaft im Subkontinent wesentlich gefährlicher ist als die zwischen den Supermächten, da sich hier zwei Nachbarn an einer über tausend Kilometer langen und zum Teil umstrittenen gemeinsamen Grenze gegenüberstehen. Eine pakistanische Atomrakete würde gerade drei Minuten nach Delhi brauchen; die Flugbahn eines indischen Projektils nach Islamabad wäre sogar weniger als eine Minute. Die Warnzeit, während der eine solche Rakete in der Luft angegriffen und die Bevölkerung gewarnt werden könnte, ist also zehnmal kürzer, als sie einst für den Ernstfall der USA und ihres sowjetischen Widersachers berechnet wurde.

Doch wer heute einen Passanten in den Straßen der indischen Hauptstadt fragt, wie er sich im Ernstfall verhalten würde, erhält als Antwort bestenfalls ein Achselzucken. Die Ignoranz ist auch die Folge des Informationsnotstands, um nicht zu sagen einer staatlichen Informationsverweigerung, die mit einer vollständigen Vernachlässigung aller Vorsorgemaßnahmen einhergeht. Zwar heißt es im Entwurf der indischen Nukleardoktrin, das Land werde ein „Katastrophen-Kontrollsystem“ einrichten. Aber diese Absichtserklärung bezieht sich auf das Verhalten bei Unfällen bei der Lagerung und der Behandlung von Waffen und Materialien, nicht den Schutz der Zivilbevölkerung oder der Soldaten im Kriegsfall.

Spricht man mit Vertretern des militärischen Establishments, begründen diese die fehlenden Informationen und Schutzmaßnahmen ausgerechnet mit der offiziellen Ablehnung der Atomwaffe als einer annehmbaren Form der Kriegsführung. „Die offizielle indische Version lautet“, sagt Raja Menon, ein Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats, „dass es nie zu einem Atomschlag kommen wird. Wir haben, sagt die Nukleardoktrin, absolutes Vertrauen darauf, dass unsere Zweitschlagskapazität jeden möglichen Atomangriff eines Gegners ausschließt.“

Menon fürchtet, dass die Einrichtung von Schutzräumen oder die Ausgabe von Medikamenten gegen radioaktive Strahlung Angst in der Bevölkerung schüren und möglichen Gegnern ein falsches Signal aussenden würde. „Es ist wie in der Armee. Wenn die Führung den Soldaten Gasmasken ausgibt, kann dies auf zwei Arten gelesen werden: Wir wollen uns vor möglichen Chemiewaffen-Einsätzen des Gegners schützen, lautet die eigene Version. Aber der Gegner kann es als Bedrohung interpretieren: Die geben ihren Soldaten Schutzmasken aus, weil sie selber Chemiewaffen einzusetzen gedenken. Wenn Atomwaffen nur eine Abschreckung bewirken sollen und nie eine realistische Waffenoption sind, dann dürfen wir unser Land nicht auf den Atomkrieg vorbereiten.“

In den Augen von Atomwaffengegnern wie dem Publizisten Praful Bidwai ist dies die zynische Rationalisierung eines Spiels mit dem atomaren Feuer. Für ihn steckt hinter dem Stillschweigen und dem Mangel an Maßnahmen eine bewusste Logik: Sowohl Indien wie Pakistan wollen verhindern, dass mit Aufklärung und realistischen Darstellungen der katastrophalen Wirkung von atomaren Feuerstürmen die Opposition in der Öffentlichkeit wächst.

Jahrzehntelang haben Indien und Pakistan eine Politik der strikten Ablehnung von Atomwaffen verfolgt. Die inzwischen aufgegebene öffentliche Ächtung erreichte, so Bidwai, das Gegenteil: Sie verhinderte breite Debatten über das Für und Wider dieser Todeswaffe.