Gute Ideen und schlechtes Vorbild

Experten aus Indien, Chile, Jordanien und Kenia beurteilen deutsche Fortschritte bei der Nachhaltigkeit: Effiziente Energiepolitik, guter Klimaschutz, Versagen beim Verkehr. Hoher Ressourcenverbrauch und große „ökologische Schuld“

von BERNHARD PÖTTER

Entwicklungsländer kennen das Vorgehen zur Genüge: In einer Krise besuchen die Wirtschafts- und Finanzexperten der Industrienationen das Land, sichten die Daten und legen ein Konzept vor, das die Probleme lösen soll.

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat den Spieß nun umgedreht: Sie lud vier Experten aus Indien, Chile, Jordanien und Kenia ein, um die Fortschritte Deutschlands bei der nachhaltigen Entwicklung einzuschätzen. Deren Urteil: Deutschland ist Vorreiter und Vorbild etwa beim Klimaschutz, bei der Förderung regenerativer Energien oder beim öffentlichen Nahverkehr in den Städten. Schlechte Noten bekommt Deutschland dagegen bei der Fixierung des Verkehrs auf dasAuto, bei der Beteiligung der BürgerInnen an der Planung und bei der Rolle als globales Vorbild beim privaten Konsum.

„Es ist bemerkenswert, wie in Deutschland ein Markt für regenerative Energien geschaffen wurde“, sagt Bernardo Reyes vom Instituto de Ecología Política in Santiago de Chile. „Unsere Regierung nimmt den Markt als etwas Gegebenes hin.“ Auch die öffentliche Beteiligung deutscher Schulen an der Solarkampagne und den Atomausstieg sieht Reyes als Pluspunkt in der Bilanz.

Positiv beeindruckt hat der öffentliche Nahverkehr die indische Umweltjournalistin Meena Menon. Die vielen Kilometer Radwege in den Städten und die Tatsache, dass 25 bis 30 Prozent der innerstädtischen Wege mit dem Fahrrad erledigt werden, fand in dem Expertenteam ebenfalls Anklang.

Doch gerade die Verkehrspolitik wird auch massiv kritisiert: Die Gruppe „gewann den Eindruck, dass die Deutschen ihr Auto zu sehr lieben, um sich mit den Kosten für die Umwelt und den sozialen Folgen von autointensiven Bereichen beschäftigen zu wollen“. Es bestehe „eine große Abhängigkeit von Fortschritts- und Modernitätssymbolen wie schnellen Autos“. Die führenden Schichten des Südens richteten sich auch nach dem deutschen Vorbild: „Bei uns wurde gerade das Tempolimit auf der Autobahn von 100 auf 120 Stundenkilometer heraufgesetzt“, so Reyes. Nötig sei für Deutschland deshalb eine „Geburtenkontrolle für Autos“.

Die Agrarwende hin zu einer mutlifunktionalen Landwirtschaft wird einhellig begrüßt. Doch die technisierte und globalisierte Landwirtschaft richte im Süden immer noch großen Schaden an: „Durch die Nutzung weltweiter Ressourcen als Futtermittel für Nutztiere sowie durch den Einsatz ungeheurer Mengen an Energie hat die deutsche Landwirtschaft ihre Grenzen auf sämtliche Kontinente ausgedehnt“, heißt es in dem Bericht. Dadurch werde vielen Armen in den Entwicklungsländern der Zugang zu den Ressourcen verweigert. Deutschland habe „einen unverhältnismäßig großen Anteil der weltweiten Ressourcen verbraucht, um einen Wohlstandsgrad und Reichtümer anzuhäufen, die von den meisten der südlichen Länder nicht zu erreichen sind“.

Kritik erntet die schwache Beteiligung der Bevölkerung an umweltrelevanten Planungen. So sei die nationale Nachhaltigkeitsstrategie nicht von unten diskutiert, sondern von der Regierung verordnet worden. Regelrecht entsetzt waren die Mitglieder der Gruppe nach einem Besuch beim Braunkohletagebau im nordrhein-westfälischen Garzweiler. „Die dortige Bevölkerung wird einfach übergangen, und ihre Landschaft und Traditionen werden vernichtet“, kritisiert Bernardo Reyes. Das Projekt dürfe jedoch nicht in Frage gestellt werden, weil es im sozialdemokratischen Stammland stattfinde. Das ganze Vorgehen erinnere an „den Umgang mit indigenen Völkern in den Ländern des Südens“.