Kulturelle Basis erforschen

„artgenda“ will nicht nur Netzwerk sein, sondern auch offizielle Räume uminterpretieren, den Besucherkontakt zu Künstlern erleichtern – und einen Mix ästhetischer Schulen präsentieren

Interview: PETRA SCHELLEN

Sinnlich soll sie sein, Erlebnisräume und Kommunikationsforen schaffen: Eine Alternative zum konventionellen Kulturbetrieb will die Ostseekunst-Biennale artgenda bieten, die vom 7. bis zum 23. Juni 170 Künstler aus dem Ostseeraum nach Hamburg bringt. Geradezu elegant fügt sich die “Riesenbratling“-Diskussion in diesen Kontext ein. Doch dies soll nicht den Blick auf die Prinzipien des Gesamtprojekts verstellen. Ein Gespräch mit Veit Sprenger, der der Concept Conference angehört, jenem Kurator-ähnlichen Gremium, das Hamburger „Paten“-Künstler mit den Gästen zusammenbrachte.

taz: Welches ist die politische Grundidee der Hamburger artgenda?

Veit Sprenger: Wir möchten unabhängig von Landesgrenzen einen neuen kulturellen Zusammenhalt im Ostseeraum bauen. Denn die artgenda ist nicht nur eine Netzwerk-Aktion, sondern auch eine Identitätsbildungsmaßnahme für alle Beteiligten, ein Erforschen der Frage, ob es eine gemeinsame kulturelle Basis für die Ostseeanrainer gibt. Finnen und Esten z. B. leben beide in einer geographischen Region, die von einem gewissen „Ende der Welt“-Gefühl geprägt ist, das aber zu einer besonderen Offenheit führt. Die dortigen Künstler haben eine imponierend unbekümmerte Art, Stile zu mischen, die bei uns dogmatisch getrennt sind.

Prinzip der artgenda ist ja die Arbeit im Kollektiv – bewusst über Nationalitätsgrenzen hinweg. Wie werden Sie mit Konflikten umgehen, die etwa zwischen Esten und Russen auftreten können?

Mit Konflikten rechnen wir, und wir setzen darauf, dass sie sich produktiv auswirken. Den lautesten Clash wird es wohl in musikalischen Projekten wie der „Noise Factory“ geben – einer experimentellen Geräuschbastion, an der Künstler aus allen beteiligten Nationen mitwirken. Wir wünschen uns, dass da verschiedene ästhetische Schulen aufeinandertreffen, basierend auf unterschiedlichem nationalem, künstlerischem und persönlichem Background.

Im Katalog schreiben Sie, die artgenda wolle sich durch die Hintertür in die etablierten Institutionen einschleichen. Kollidiert das nicht mit dem Anspruch, Alternative zum offiziellen Kulturbetrieb zu sein?

Nein, denn man muss sehen, wie wir die „etablierten“ Räume nutzen: Ein Projekt wird in der Tiefgarage der Kunsthalle stattfinden, eins in der Schauspielhaus-Kantine, ein weiteres – „artgenda by Night“ – im Altonaer Museum und im Zoologischen Museum. Wir interpretieren also den Apparat um, wir missverstehen ihn absichtlich. Das ist manchmal ein schwerer Eingriff in die Räume und ein Härtetest für die Institution: Wir haben mit einigen Museen Verhandlungen geführt, die aber immer irgendwann scheiterten – z. B. an der nicht ausschaltbaren Alarmanlage. Dies zeigt, wie unflexibel solche Institutionen in bestimmten Punkten sind und welche Unberührbarkeits-Aura offizielle Kunst hat. Dem wollen wir entgegenwirken, indem wir die Künstler hier live arbeiten lassen, sodass Besucher jederzeit mit ihnen sprechen können.

Sind die Hamburger artgenda-Organisatoren bei den Künstler-Erkundungsreisen nach Osteuropa manchmal in Versuchung geraten, dort Vorgefundenes rückständig zu finden? Und wird der Westen irgendwann Maßstäbe von „antiquiert“ revidieren müssen, weil sie den Entstehungskontext nicht genügend berücksichtigen? Wird es mittelfristig überhaupt noch darum gehen, das „fortschrittlichste“ Werk zu erschaffen?

Ich glaube, dies ist ein Lernprozess, bei dem ein Denken in Vektoren einsetzen muss. Es gibt unendlich viele Kräfte, die eine Entwicklung prägen. Es geht darum, diese komplexen Zusammenhänge zu begreifen. Und persönlich ist es längst nicht mehr mein Ziel, irgendwohin zu kommen – in die Avantgarde zum Beispiel. Dieses Denken in linearen Prozessen halte ich für überholt.

Zum Entstehungshintergrund der artgenda-Werke gehören auch die Lebensbedingungen der Künstler. Werden sie Diskussionsgegenstand sein?

Ja. Beim Projekt „Fair“ werden sich Galerien aus verschiedenen Ländern präsentieren. In diesem Zusammenhang werden wir auch darüber diskutieren, wie sich die Künstler finanzieren. Außerdem wollen wir kulturpolitische Modelle der verschiedenen Länder vergleichen – eine Diskussion, die ich auch in Politikerkreisen für sinnvoll hielte, weil sie vielleicht Wege aus mancher Sackgasse weisen kann.