Eine Feierstunde am Rande

Der Landesverband deutscher Sinti und Roma erinnerte mit einer Gedenkstunde in Marzahn an in der Nazizeit ermorderte Vorfahren. Mehrere Redner kritisierten antisemitische Sprüche aus der FDP

von PHILIPP GESSLER

Es gleicht einer Landpartie, hinauszufahren an den Stadtrand. Bei diesem herrlichen Wetter! Wären da nicht die Gräber, der Parkfriedhof Marzahn erschiene eher als Park denn als Friedhof. Gleich am Eingang unter Eichen steht eine riesige Schwurhand aus Stein: „Euch Lebende mahnen die 3.330 Opfer des Bombenterrors“. Tiefer im Friedhof geht es vorbei an großzügig angelegten Gräberfeldern für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, vorbei an Ruhestätten von „NS-Opfern“. Doch selbst an diesem Ort am Rande gibt es noch ein Abseits: Versteckt und durch kein Hinweisschild aufzufinden, steht dort der Gedenkstein für die in der NS-Zeit ermorderten Sinti und Roma der Hauptstadt.

Etwa eine halbe Million Sinti und Roma haben die Nazis getötet, ebenso systematisch, industriell und gnadenlos, wie sie die Juden Europas töteten. Und doch kämpfen die Nachkommen seit Jahren vergeblich um ein öffentliches Gedenken ihres Leidens in Form eines zentralen Mahnmals in der Mitte der Stadt – wer draußen in Marzahn war, etwa gestern bei einer Gedenkfeier in Erinnerung an die ermordeten Berliner Sinti und Roma, wird verstehen, warum. Anlass war der 66. Jahrestag ihrer gewaltsamen Verschleppung an den Stadtrand Berlins.

Während der Olympischen Spiele sollten die etwa 1.000 Sinti und Roma das Bild vom arisch-aufstrebenden Deutschen Reich nicht mitten in der Hauptstadt stören. In Marzahn, wo heute der Gedenkstein steht, richteten die Nazis ein Zwangslager für „Zigeuner“ ein. Unter elendsten Bedingungen kamen hunderte, etwa vor Hunger, um. Die Übrigen wurden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert. Nur wenige überlebten die Lager.

Zu ihnen gehört Otto Rosenberg, der lange Jahre dem Landesverband deutscher Sinti und Roma in Berlin-Brandenburg vorstand und vergangenes Jahr starb. Seine Tochter Petra, jetzt Geschäftsführerin des Verbandes, erinnerte an ihres Vaters Einsatz für die Erinnerung an den weit weniger bekannten Völkermord der Nazis. Rosenberg hatte ihn als Einziger in seiner Familie überlebt. „Schmerzlich bewusst“ werde das Fehlen eines zentralen Mahnmals in der Mitte der Stadt, sagte seine Tochter: Seit Jahren ist als Standort eine Lichtung südlich des Reichstags vorgesehen. Immerhin sei sie zuversichtlich, dass es 2004 realisert werden könne.

Alexander Brenner, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, erinnerte an die gemeinsame Leidensgeschichte der Sinti und Roma mit den Juden: Seit Jahrhunderten seien beide Volksgruppen als „die Fremden, die Anderen“ ausgegrenzt worden. Über der Gedenkfeier schwebte Empörung über den Ungeist des FDP-Vizechefs Jürgen W. Möllemann. Gleich Petra Rosenberg kritisiert Brenner den Gebrauch antisemitischer Parolen im Bundestagswahlkampf. Wie die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, Martina Michels, warnte Kultursenator Thomas Flierl (PDS) davor, latente Judenfeindschaft in der Bevölkerung politisch zu instrumentalisieren. Wahied Wahdathagh, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, sprach von „wahltaktischen Spielereien“ der FDP.

Eindrucksvoll begleiteten neben dem Posaunenchor der Evangelischen Kirche Marzahn vor allem das „Duo Romença“ die Gedenkstunde. Ernst-Gottfried Buntrock vom „Ökumenischen Forum Berlin-Marzahn“ erinnerte an das weitreichende Versagen der Kirchen angesichts der Verfolgung der Sinti und Roma in der Nazizeit, Monsignore Michael Töpel betete in Vertretung für Georg Kardinal Sterzinsky das Vaterunser für die Toten.

Kurt Goldstein, jüdischer Kommunist und Auschwitz-Überlebender, gedachte in einer spontanen Rede der „Brüder und Schwestern“, die „in denselben Krematorien“ verbrannt wurden wie die Juden. Er forderte, dass die Zwangsarbeiterstiftung Schluss machen müsse mit ihrer Praxis, nur wenige Sinti und Roma zu entschädigen. Nach Angaben von Petra Rosenberg haben etwa 2.000 deutsche Sinti und Roma Zahlungen von der Zwangsarbeiterstiftung beantragt. Nur rund 60 haben bisher eine Entschädigung erhalten. Aber wahrscheinlich ist das ja auch nur ein Problem am Rande.