Tore-Wahnsinn macht Laune

Das deutsche Team befällt nach dem unverhofften 8:0 beim WM-Auftakt gegen das schwache Saudi-Arabien eine mit Verwunderung und Unglauben gemischte Euphorie sowie ein gelinder Optimismus

„Auch gegen so einen Gegner muss man erst mal acht Tore schießen.“

aus Sapporo FRANK KETTERER

Es kann einem manchmal ganz schön viel Mut für die Zukunft machen, wenn man den Blick zurückwirft in die Vergangenheit. In das Jahr 1990 zum Beispiel, als deutsche Fußballer bei der WM in Italien antraten, gleich zum Auftakt, quasi als Appetithappen, die Jugoslawen mit 4:1 wegputzten und danach, man erinnert sich gerne, Weltmeister wurden. Oder 1966 in England, wo es einen 5:0-Auftaktsieg gab gegen die Schweiz und Deutschland auch in der Folge von nichts mehr aufzuhalten war, außer im Finale von der gröbsten Schiedsrichter-Fehlentscheidung der Fußballgeschichte. Oder, die Krönung schlechthin, 1954: Damals, in der Schweiz, mussten die Deutschen ja schon froh sein, überhaupt wieder mitmachen zu dürfen bei so einem Sportfest. Gleich zu Beginn schlugen sie dann, durchaus zur allgemeinen Überraschung, die Türkei mit 4:1, und als das Turnier zu Ende war, waren die braven Männer zu Helden geworden, zu den Helden von Bern.

Man muss an diese Episoden einfach erinnern, um ein bisschen eine Ahnung davon geben zu können, was für eine seltsame Stimmung der Hoffnung und des Aufbruchs da am späten Samstagabend herrschte im Bauch des supermodernen Fußballdomes zu Sapporo. Auch dort war ja eine deutsche Mannschaft in eine WM gestartet, mit etwas flauem Gefühl rund um den Bauchnabel und wenig Aussicht, wirklich für Furore sorgen zu können beim Fußballfest in Südostasien, so jedenfalls hatten es die Experten immer wieder vorhergesagt. Und dann kam dieser Samstag in Sapporo, mit ihm Saudi-Arabien als Gegner – und acht Tore für Deutschland. 8:0 zum Auftakt, so furios war noch nie eine deutsche Mannschaft in ein solches Championat gestartet, nicht Fritz Walter, nicht Uwe Seeler, nicht Franz Beckenbauer. Mehr noch: Nie zuvor hatte eine deutsche Elf bei einer WM überhaupt so hoch gewonnen. Und deshalb war es ganz bestimmt nicht übertrieben, dass die deutschen Spieler an diesem denkwürdigen Tag im Lande Nippon nicht nur frisch geduscht, sondern bis zum Platzen gefüllt mit Stolz und Selbstvertrauen im Bauch der Fußballkathedrale erschienen, um nach Erklärungen zu fahnden für das gerade vollbrachte Wunder.

Rudi Völler, der Chef der deutschen Kicker-Belegschaft, war der Erste, der sich darin versuchte, und dass er dabei ein Lächeln aufgesetzt hatte, das jedem Japaner zur Ehre gereicht hätte, verriet schon alles über den ausgeglichenen Zustand seines Innenlebens. „Ist doch klar, dass ich mit dem Spiel hoch zufrieden bin“, sagte Völler passend zum Gesichtsausdruck und hielt auch nicht hinterm Berg damit, warum dem so war, von den acht Toren einmal ganz abgesehen. „Die Mannschaft war überragend engagiert, jeder Einzelne motiviert bis in die Haarspitzen“, frohlockte sich Völler beinahe in einen Jubelrausch, der schließlich in einen der wichtigsten Sätze des ganzen Abends mündete: „Phasenweise hat die Mannschaft richtig Fußball gespielt.“

Das hat sie wirklich, was nicht nur beim Teamchef für einen Hauch von ungläubiger Verwunderung zu sorgen schien. „Ich habe das vorher nicht so für möglich gehalten“, gab jedenfalls Carsten Jancker zu, auch Michael Ballack konnte sich den Hinweis nicht verkneifen, dass der Sieg doch arg hoch ausgefallen sei. „Damit haben wir nicht gerechnet“, sagte der Leverkusener. Und weil sie alle zusammen mächtig überrascht waren vom eigenen Tore-Wahnsinn, schoben sie es am Ende einfach auf den Gegner, dessen Desinteresse, am Spiel auch nur phasenweise teilzunehmen, aber auch zu offensichtlich war. „Ich hätte die Saudis etwas stärker erwartet“, sprach Carsten Ramelow, während Torsteher Oliver Kahn darum bat, „diesen Sieg nicht zu hoch zu hängen.“ Begleitet wurden solch relativierende Äußerungen freilich stets von dem Satz, den an diesem Abend jeder deutsche Spieler mindestens einmal von sich gab. Tenor: „Auch gegen so einen Gegner muss man erst mal acht Tore schießen.“

Auf jeden Fall deutlich wurde gemacht, dass die Deutschen doch nicht ganz zu Unrecht mitkicken dürfen bei dieser WM und keinesfalls nur als Kanonenfutter für die anderen dienen werden. Wenn man etwas näher ins Detail geht, hat die Partie zudem gezeigt, dass Miroslav Klose derzeit einen so unglaublichen Lauf hat, dass er im günstigsten Fall die ganze Mannschaft mitreißen kann. Dass Jancker nicht nur wieder trifft, sondern darüber hinaus ackert wie ein Pferd und schon dadurch ein Quell steter Gefahr ist. Dass Torsten Frings und Bernd Schneider im Gespann eine rechte Flanke von internationaler Güteklasse bilden. Dass Michael Ballack das Spiel keineswegs unbedingt alleine initiieren muss, sondern in Dietmar Hamann durchaus einen Partner hinter sich hat, der weiß, wie man einen klugen Ball schlägt und damit eine Partie in die richtige Richtung lenkt.

Das alles sind noch keine Sensationen. Und doch spenden sie Mut und Hoffnung für das weitere Turnier, ein bisschen wenigstens. „Die Moral in der Mannschaft stimmt absolut, jetzt haben wir ein paar ruhige Tage vor uns“, hat Rudi Völler das formuliert. Und Michael Ballack gar „eine Euphorie“ entdeckt, was ganz bestimmt nicht schädlich ist für eine Mannschaft, die auch nach diesem denkwürdigen 8:0 in erster Linie von der guten Laune wird leben müssen, zumindest wenn es demnächst mal gegen einen richtigen Gegner geht. Dass ausgerechnet Oliver Kahn es war, der diesen Aspekt ansprach, wird schon kein Zufall sein, der Mann im Kasten gilt ja als Spezialist in solchen Psychodingen. Dem Sieg vom Samstag sprach er gleich zweierlei Kräfte zu. Erstens: „Die anderen Mannschaften werden jetzt wieder sehr, sehr großen Respekt vor uns haben.“ Zweitens: „Wir glauben noch mehr an uns und sind jetzt noch mehr davon überzeugt, dass wir hier Großes leisten können.“ Vielleicht hat Kahn dabei sogar ein bisschen an die Vergangenheit gedacht.

Deutschland: Kahn - Linke, Ramelow (46. Jeremies), Metzelder - Frings, Schneider, Hamann, Ballack, Ziege - Jancker (67. Bierhoff), Klose (77. Neuville)Saudi-Arabien: Al-Deayea - Dokhy, Suliman, Tukar, Sulaimani - Noor, Al-Owairan (46. Al-Shahrani), Al-Waked - Al-Temyat (46. Al-Khathran), Al-Jaber - Al-Hassan (77. Gaman) Zuschauer: 42.000; Tore: 1:0 Klose (20.), 2:0 Klose (25.), 3:0 Ballack (40.), 4:0 Jancker (45.), 5:0 Klose (69.), 6:0 Linke (73.), 7:0 Bierhoff (83.), 8:0 Schneider (90.)