Lasst Blumen aus Samthosen wachsen

Von der Unmöglichkeit, sich nicht ein Leben lang erinnern zu müssen: Larissa Boehning und Niklas Ritter kämpfen jeder auf ihre Art mit der Vergangenheit. Seit dem Wochenende teilen sie sich den Literaturpreis Prenzlauer Berg

Zu Beginn der Lesung die Bitte an die Autoren und Autorinnen, sie möchten sich doch kurz vorstellen: „einfach Name, Alter, Beruf“. Diese Frage nach dem Beruf der Autoren wird mit zaghaften Lachern beantwortet: Sie sind natürlich Schriftsteller, so ist dieses Lachen zu verstehen, selbst wenn sie im normalen Leben Studenten, Lehrer oder Grafikdesignerinnen sein mögen.

Rund um den Kollwitzplatz fand in diesem Jahr zum fünften Mal die Literaturwoche LiteraturOrt Prenzlauer Berg statt, die mit der Lesung und der Verleihung des Literaturpreises Prenzlauer Berg am Sonntag zu Ende ging. Der Preis soll jungen Autoren unter 35, die bisher noch nichts veröffentlicht haben, die Chance geben, doch einmal den Schritt an die Öffentlichkeit zu wagen.

In Prenzlauer Berg wird deshalb an diesem Sonntag vorgelesen: Um die 85 Manuskripte sind eingesandt worden, die besten neun Texte werden jetzt von den Autoren im Musikzimmer der Bibliothek am Wasserturm vorgelesen. Die Zuschauer in dem engen Raum sitzen dicht an dicht, einige der mitgeschleppten jüngeren Geschwister werden schon etwas unruhig, von hinten rufen sie „Lauter!“, auch als noch gar nichts gesagt wird. Im Rücken der Jury lehnen einzelne Schallplatten und Kassetten in Regalen, die Aufschriften tragen wie „Schlager“ oder „Kinder/Klassik“. Der Ort scheint der richtige für diese Lesung zu sein: „Leerkassetten“, so lautet der Titel von einer der Geschichten. Die neun vorgetragenen Texte unterscheiden sich dann sehr: Da wechseln Brave-New-World-Szenarios mit Erinnerungen an das kunstlederne rote Tagebuch der Kindheit ab, da ist von Beziehungen die Rede, von Liebe und Freundschaft, vom Abschiednehmen und der Angst.

Manchmal drohen die Zuhörer abzugleiten und die Konzentration zu verlieren – aber dann liest schließlich Larissa Boehning Auszüge aus ihrer Geschichte „Stummer Fisch, Geliebter“. Die Erzählerin berichtet vom Fremdsein in der Sprache und vom Fremdsein miteinander. Sie erzählt von ihrer russischen Großmutter, die sich zeit ihres Lebens weigert, in Deutschland Deutsch zu sprechen; von der Sprache, die ein „Schatz ist, den es zu hüten galt“; von sich selbst und ihrem Liebhaber, dem „Fremden, den ich so nenne“.

Der Rückzug in sich selbst, die Unfähigkeit zu sprechen, die Verweigerung – all das findet hier auf mehreren Ebenen statt, die ineinander geschaltet werden. Leitmotivisch kehren einzelne Sätze und Wörter wieder, verknüpfen die verschiedenen Handlungsstränge und lassen gleichzeitig das Befremdliche an der Sprache überdeutlich werden. Wenn der Text dann trotzdem mit den Worten schließt: „Ich hab dich schon verstanden, ich hab nur nie was gesagt“, dann kann man nur hoffen, dass Larissa Boehning in Zukunft noch oft Gelegenheit haben wird, etwas zu sagen.

Wie bei ihr kommt auch bei einem anderen Autor die Erinnerung zu Wort. In der Erzählung „Der Geschichtslehrer“ von Niklas Ritter verschwendet der Ich-Erzähler viele Gedanken an den möglichen Inhalt von Abstellkammern für unerwünschte Erinnerungen. Dort soll dann all das rein, was man gern vergessen möchte: die Einschulung zum Beispiel, als der Vater bunte Blumen aus der Samthose der Mutter ausschnitt, um damit die Schultüte seines Sohnes zu verzieren.

Wenn die Jury statt drei gestaffelten Preisen zwei gleichwertige erste Preise an diese beiden Autoren vergeben hat, dann würdigt sie damit auch deren unterschiedliche Arten, erzählerisch mit der Erinnerung umzugehen: ernst und behutsam, wie es Larissa Boehning tut, oder leicht, witzig, oft slapstickartig wie Ritter. Und draußen ist auch nach neun Geschichten und zwei Preisen noch Sommer und Sonntag.

ANNE KRAUME