… und raus bist du!
: taz-Debatte „Berlin nach Pisa: Wo bleibt die Chancengleichheit?“ (Teil 9)

Nutzen oder Schaden? Was bringt der Sprachtest „Bärenstark“? Ein Pro und Contra

Schulsenator Klaus Böger (SPD) wird am Mittwoch die Ergebnisse des Sprachtests „Bärenstark“ vorlegen. Der Test wurde im Frühjahr erstmals bei allen Kindern durchgeführt, die in den Innenstadtbezirken eingeschult werden. In Wedding wurde er seit 1998 erprobt. Das Ergebnis: Fast die Hälfte der Kinder braucht dringend sprachliche Förderung, bei den nichtdeutschen Kids waren es 72 Prozent, bei den deutschen 11 Prozent. Und das, obwohl neun von zehn Kindern in einer Kita waren. Ähnlich dramatisch werden die Ergebnisse wohl auch jetzt aussehen. Doch die Sprachstandsmessung, wie der Test offiziell heißt, ist umstritten. NUTZEN: „Bärenstark“ gibt der Schule lernrelevantes Wissen über das Kind, das bislang nicht vorhanden war. So kann das einzelne Kind gezielt gefördert werden, meint KARIN BABBE.

Was bringt „Bärenstark“ für das Kind? Welchen Nutzen haben die Ergebnisse für die Schule? Jedem künftigen Erstklässler wendet sich eine Lehrerin etwa 30 Minuten intensiv zu. Schon weit vor seinem offiziellen Schulstart ist das Kind in dieser Situation wichtig und die Hauptperson. Die Schule signalisiert: „Wir sind neugierig auf dich und wollen wissen, was du schon kannst.“ Ob Mohammed oder Marcel, ob Yurdagül oder Yvonne – allen Kindern bringt diese Begegnung mit der Schule ein herzliches Willkommen.

Die Lehrerinnen und Lehrer erfahren und sammeln in dieser Zeit eine Menge sprachlicher Daten über das einzelne Kind. Daten, die auf die deutsche Sprache bezogen sind. Denn nur wenn Schüler und Schülerinnen die deutschen schriftsprachlichen Standardnormen beherrschen, können sie tragfähige Bildungsabschlüsse erreichen.

„Bärenstark“ erfasst konsequenterweise nicht das Sprachkönnen in den unterschiedlichen Muttersprachen der Kinder, da Erkenntnisse darüber aufgrund der Tatsache, dass in Berlin die mehrsprachige Regelklasse das verbreitetste Organisationsmodell ist, keine Bedeutung haben.

Die Lehrer wissen nach den Sprachstandserhebungen, wer auf Deutsch bereits Einzahl und Mehrzahl bilden und verwenden kann. Sie erfahren, welche Satzmuster Serkan und Sarah können. Sie können benennen, welche Verneinungsformen, welche Präpositionen oder welche Fälle das Kind benutzt. Darüber hinaus zeigen die Kinder in ihren sprachlichen Äußerungen, welche Konstruktionsleistungen das Gehirn vornimmt – (zum Beispiel „er macht sein Anzug“ für „er zieht sich an“) und wie es die Welt betrachtet. Weitere, nichtsprachliche Erkenntnisse fallen nebenbei ab. Auf einem Bilderpaar werden von einem jeweils dicken und dünnen Mann Luftballons hochgehalten. Das Kind soll in diesem Fall den Unterschied benennen. Auf die Impulsfrage antwortet es spontan: „sechzehn Luftballons“. Das stimmt und zeigt der Lehrerin, dass dieses Kind bereits ungewöhnlich große Mengen ganzheitlich erfassen kann. Wenn die Kinder zum Schluss ihren Namen unter ihre Arbeiten setzen, entsteht ein Gespräch über das Lesen und Schreiben. Manche Kinder können lesen, sagen es, zeigen es, und Schule kann und muss darauf reagieren.

Aus allen Daten können sich die Lehrer und Lehrerinnen der künftigen ersten Klassen über jedes Kind ein Bild machen. Die Schule kann genau bestimmen, welches Kind mit welchen schulischen Angeboten – inhaltlich oder organisatorisch – wie am besten in seiner sprachlichen Lernentwicklung gefördert werden kann, erste Differenzierungskonzepte werden erarbeitet. Ein solches lernrelevantes Wissen über das Kind weit vor der ersten Klasse war bislang nicht vorhanden.

Die noch verbleibende Zeit von Februar/März bis zur ersten Klasse wird in den Vorklassen der Schulen genutzt, um binnendifferenzierte Lerngruppen für intensivere Förderung zu bilden. Die Erläuterung der Ergebnisse führt auch zu einem Dialog mit den Kitas und dort wiederum zu neuen Impulsen in der Sprach- und Entwicklungsförderung der Kinder.

Eltern schätzen diese individuelle Begegnung der Schule mit ihrem Kind und sich. Schule ist auch den Eltern gegenüber aufmerksam. In einem Eröffnungsinterview werden die häuslichen Sprachgepflogenheiten besprochen und nicht selten Hinweise zum Fernsehkonsum oder dem Vorlesen und Erzählen zu Hause gegeben. Besonders bildungsferne Elternhäuser sind solchen Gesprächen gegenüber aufgeschlossen.

Natürlich nützen die Ergebnisse auch dem Schulsenator und seinem Finanzkollegen, um die Investitionen in Lehrerstunden für die Förderung der Kinder zu beantragen und zu begründen. Dieser vielfältige Gewinn für unterschiedliche Personen rechtfertigt den Aufwand.SCHADEN: „Bärenstark“ vermittelt ein falsches Bild von den Sprachkompetenzen des Kindes. Aus den Ergebnissen kann daher keine sinnvolle Förderung abgeleitet werden, meint URSULA NEUMANN.

Es besteht kein Zweifel, dass dringender Bedarf an Verfahren zur Sprachstandsdiagnostik besteht. Alle Bemühungen, die sprachlichen Kompetenzen von Kindern vor Eintritt in die Schule zu erfassen, sind zu begrüßen, denn die Lehrerinnen und Lehrer sollten wissen, mit welchen Voraussetzungen die Kinder kommen und worauf sie ihre Förderung aufbauen können. Die Kinder aus zugewanderten Familien kommen aber meist mit anderen Voraussetzungen in die Schule als einsprachig deutsche Kinder, denn sie sind mindestens zwei Sprachen begegnet, manchmal auch drei. So ist der Wortschatz dieser Kinder ganz anders zusammengesetzt als der einsprachige Kinder: manche Begriffe kennen sie in allen ihren Sprachen, manche Begriffe nur in der einen oder der anderen. Auch die Regeln der Sprachen muss das Kind zu unterscheiden lernen. Je nachdem, wie weit ein Kind in diesem zweisprachigen Lernprozess fortgeschritten ist, kennt es bereits die Unterschiede und kann sein Wissen anwenden. Weil Kinder nicht bloß unfertige Erwachsene sind, haben Schulanfänger eine Kindersprache, die sich erheblich von der Sprache der Erwachsenen unterscheidet. Ihre Sprache darf daher auch nicht an der Sprache der Erwachsenen gemessen werden. Leider ist die zweisprachige Kindersprache aber noch sehr wenig erforscht – und Tests, die sie in ihren türkischen oder polnischen Anteilen messen könnten, gibt es nicht.

„Bärenstark“ ist ein Test, wenn auch ein schlechter. Nach vorgegebenen Kriterien werden Punkte verteilt für sprachliche Leistungen in Deutsch. Es wird ein Maximum von hundert erreichbaren Punkten gesetzt, jeder Fehler bringt einen Punktabzug und am Ende werden die Kinder im Hinblick auf Förderbedürftigkeit eingeschätzt. Die Kinder erhalten viele Punkte, wenn ihre Antworten richtig und im vollständigen Satz erfolgen – Maßstab ist also die schriftliche Erwachsenensprache. Vier Punkte erhält das Kind, das sagt: „Der Junge trocknet sich mit einem Handtuch ab.“ „Er trocknet sich ab“ gibt zwei Punkte Abzug, obwohl dies typisch und richtig für eine mündliche Äußerung ist.

Somit ist keine Objektivität – ein wichtiges Gütekriterium für Tests – gegeben, denn was als Fehler gilt, ist nicht festgelegt. Die Testbereiche sind willkürlich; welche Bedeutung sie für die kindliche Sprachentwicklung haben, ist nicht erkennbar. Der Test ist nicht valide, denn es ist ungeklärt, ob er das misst, was er zu messen vorgibt. So wird z. B. nur der aktive Wortschatz erfasst, nicht der passive.

„Bärenstark“ orientiert sich nicht am Können, sondern an den Defiziten von Kindern. Die Lehrerinnen und Lehrer erfahren nicht, worauf sie aufbauen können: Kann das Kind über die Vergangenheit erzählen, kann es Nebensätze bilden? Weiß es, wie man verneint, wie Fragen gebildet werden im Deutschen? Welche Lernstrategien verfolgt es?

Mit „Bärenstark“ wird auf die Symptome geblickt, nicht aber auf die Ursachen. Ein Beispiel: Wenn ein Kind nicht zwischen rechts und links unterscheiden kann, was fehlt ihm dann, die Orientierung im Raum oder nur die deutschen Wörter für rechts und links? Die pädagogischen Konsequenzen wären höchst unterschiedlich. Sprachstandsmessungen müssen sich auf die ganze Sprache eines Kinder beziehen, sollen sie gültige und nützliche Ergebnisse bringen – gerade für den Deutschunterricht.

Weil ein falsches Bild von den sprachlichen Kompetenzen des Kindes im Deutschen vermittelt wird und die übrigen sprachlichen Fähigkeiten des Kindes ausgeblendet werden, ist „Bärenstark“ als Sprachstandsmessinstrument ungeeignet. Aus den Ergebnissen sind keine geeigneten didaktischen und methodischen Ansätze für die Vermittlung von Deutsch zu ziehen. Schlimmer noch: Die vorgeschlagenen Übungen „behandeln“ die falschen Ursachen, weil sie aus der Schwerhörigenpädagogik abgeleitet werden und keine Hilfe für zweisprachige Kinder und ihre Lehrerinnen und Lehrer sind.