„Der Rest ist Vertrauen“

In seinen „Cremaster“-Filmen tritt der US-Künstler Matthew Barney als Massenmörder, Meeresgott, Satyr oder Freimaurer auf. Ein Gespräch über Skulptur gewordene Körper, Mythos und Performance

Interview STEFAN KOLDEHOFF

taz: Zur Europapremiere des letzten „Cremaster“-Films werden Ihre anderen Arbeiten im Kölner Museum Ludwig gleich mit ausgestellt. Wie wollen Sie verhindern, dass die Retrospektive nicht als eine „The Making of …“-Show zu den Filmen wahrgenommen wird?

Matthew Barney: Ich wollte alle Elemente des „Cremaster“-Projektes zusammenbringen, das zwischen 1992 und 1993 begonnen hat und in diesem Jahr mit „Cremaster 3“ vollendet wurde. Ich wollte die ganze Geschichte so zeigen, wie sie gemeint ist: Film, Skulptur, Zeichnung, Fotografie. In den letzten sechs Jahren sind die Filme häufig vor allem als Gesamtprojekt verstanden worden. Ich glaube aber, dass ihre Geschichte jede einzelne Komponente nötig hat. Deshalb hoffe ich, dass klar bleibt, dass die Objekte in bestimmten Fällen Porträts der Hauptcharaktere und an anderen Stellen das Verbindungsglied zwischen zwei oder drei Charakteren sind. Ich glaube nicht, dass hier der Eindruck entsteht, es würden einfach Ausstattungsgegenstände ausgestellt. Ich bin sehr gespannt darauf, alles zum ersten Mal zusammen zu sehen.

Bis hin zu den originalen Kartoffeln aus „Cremaster 3“?

Die sind dehydriert und mit Kunststoff präpariert worden.

Ist es für Sie von Bedeutung, ob Sie als Bildhauer, als Filmemacher oder ganz allgemein als Künstler wahrgenommen werden?

Vor dem „Cremaster“-Projekt ist das Vorhaben ganz klar als Skulpturenprojekt verstanden worden. Als wir dann begannen, fand das Projekt in einem Kino statt, und man konnte sich hinsetzen und die Geschichte ansehen. Also wurde es als Filmprojekt angesehen und konsumiert. Und mit jedem Jahr, das vorüberging und mit dem ein neues Publikum kam, wurde es weniger skulptural wahrgenommen. Für mich war es aufregend, festzustellen, dass ich plötzlich ein vollkommen neues Publikum erreicht habe: ein Filmpublikum. Es vergaß meine Wurzeln. Für mich hat es sich trotzdem immer um ein Skulpturenprojekt gehandelt.

Hatten Sie zu Beginn des ersten Kapitels schon alle fünf Folgen im Kopf?

Die Drehorte standen fest, und es gab eine Vorstellung, wie der erzählerische Bogen durch diese Orte führen könnte – bis hin zur Donau-Szenerie in „Cremaster 5“. Die spezifischen Geschichten wurden dann nach und nach entwickelt. Sie sind für mich Container auf Zeit für das Projekt. Es durchläuft auf diese Weise eine Geschichte, die aus dem jeweils spezifischen Ort und aus der Mythologie entsteht, die mit ihm verbunden ist.

Was hat die Reihenfolge der Filme bestimmt?

Vor allem praktische Gründe. Wir haben auf der Isle of Man begonnen, weil sich dort die Gelegenheit bot. Dann sind wir nach Idaho gegangen, wo ich aufgewachsen bin. Ich kannte die Lokalitäten dort sehr gut. Weil ich selbst Football gespielt habe, konnten wir entsprechend schnell im Football-Stadion arbeiten. Nach den Teilen eins und zwei habe ich mich dann erst ums Ende an der Donau gekümmert, um mich von dort zurück in die Mitte zu arbeiten. Die Absicht hinter „Cremaster 3“ war, ein Rückgrat zwischen den beiden Hälften zu schaffen, indem wir das Chrysler Building als Spiegel benutzt haben, das mit seiner Stahlfassade die Teile eins, zwei, vier und fünf in alle Richtungen spiegelt. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass das Gebäude als Sitz eines Autokonzerns die richtige Corporate Identity für den „Cremaster“-Zyklus hat: Es braucht Fahrzeuge, um die geografischen Orte der Filme zu verbinden, und Fahrzeuge kommen wieder und wieder in allen Geschichten vor. Das Chrysler Building scheint das „Cremaster“-Projekt zu überblicken und eine perfekte Reflexion zu schaffen. Darum geht es in „Cremaster 3“: um den Ehrgeiz, eine perfekte Form zu schaffen. Und die Geschichte des Films zeigt, dass sie nicht perfekt ist.

War es schwierig, eine Drehgenehmigung für das Chrysler Building zu bekommen?

Die Leute, denen das Gebäude gehört, haben glücklicherweise große Sympathien für die Kunst. Bis auf die Kuppel, in der die Ahorn-Szene spielt, haben wir allerdings alle Räume nachgebaut: das Architektenbüro, die Zahnarztpraxis, den Aufzug, die Lobby. Oben in der Kuppel zu stehen, gibt einem das Gefühl, im Kopf eines Menschen zu sein – der Beton hat dort eine seltsam organische Qualität. Es war sehr schwierig, das auf den Film zu bekommen.

Wie haben Sie es geschafft, New York wie in den 30er-Jahren aussehen zu lassen?

Mich hat die Art-Déco-Periode interessiert, die Einführung der Kurve in die Skyline von New York. Also haben wir der Stadt das Aussehen von 1930/31 gegeben, Frame für Frame alle zeitgenössischen Gebäude entfernt und Nebel über die Stadt gelegt. Es war ein merkwürdiges Gefühl, am Bildschirm das World Trade Center noch einmal verschwinden zu lassen.

Neben dem Chrysler Building war das Guggenheim-Museum der zweite wichtige Drehort …

Die Szene im Guggenheim will zeigen, dass es um eine spezifische New-York-Geschichte geht. Die fünf Ebenen des Museums repräsentieren allegorisch die fünf „Cremaster“-Projekte: die Tänzerinnen auf Ebene eins, die Hardcore-Bands auf Ebene zwei, Aimee Mullins (Siegerin bei den 100- und 200-Meterläufen während der Paralympics 1996, d. Red.) auf drei, die vier gehörnten Widder auf Ebene vier und Richard Serra, der auf der fünften Etage flüssige Vaseline gegen eine Wand schleudert. Er könnte eine Allegorie auf „Cremaster 5“ sein: Seine Bleischleuder-Arbeiten waren so wichtig für mich in meiner Studentenzeit. Er nimmt eine undifferenzierte Masse und differenziert sie durch eine Geste.

Wie kommt man in ein vollkommen menschenleeres Guggenheim-Museum?

Das waren die schwierigsten Dreharbeiten, die ich jemals erlebt habe. Wir hatten fünf Tage, davon zweieinhalb am Stück. Das war sehr großzügig vom Museum. Trotzdem war die Zeit arg knapp.

Sie mussten auch schon einmal Polizisten mit Kaffee bestechen, um drehen zu können …

Das war in einem Eisenbahntunnel in New Jersey, der noch in Betrieb ist – ein wunderbarer Ort. Dort entstand die Szene, in der ein Zombie wieder aus der Erde steigt. Wir setzten das Licht, und wenn wir einen Zug hörten, haben wir es wieder abgestellt …

Muss, wer „Cremaster 3“ richtig verstehen will, die anderen vier Kapitel kennen?

Das ist natürlich mein Wunsch. Diese Ausstellung soll ja alle Elemente zusammenbringen: die fünf Filme und die Objekte, die beginnen, die Schnittpunkte zu klären.

Sie bauen für jeden Film enorme Kulissen, arbeiten mit Skulpturen, mit Prothesen, mit immer wieder anderen Kunststoffen. Beherrschen Sie all diese Techniken selbst oder haben Sie inzwischen einen Stab von Spezialisten, der für Sie arbeitet?

Was am meisten Spaß am Filmen macht, ist der Umstand, dass wir eine Gruppe von Leuten sind. Man arbeitet nicht als Solitär einsam im Atelier. Und weil viele von uns schon eine ganze Zeit lang zusammen arbeiten, haben wir auch zusammen gelernt – das ist sehr befriedigend. Jedes Projekt bringt neue Probleme mit sich und neue Materialien, und das haben wir uns alles gemeinsam angeeignet. Dasselbe gilt für die Filmtechnik: Alle „Cremaster“-Filme sind auf Video gedreht worden; also haben wir von Format zu Format gewechselt, sobald ein neues System verfügbar wurde, und auch daraus ergaben sich immer neue Fragen. Wir sind als Gruppe daran gewachsen. Irgendwie sind wir immer noch ein bodenständiges Projekt.

Haben Sie noch alles unter Kontrolle? Sind Sie ein Perfektionist?

Die meisten Dinge machen wir ja selbst. Wir geben nur sehr wenig nach außen – das Bauen bestimmter Maschinen etwa oder die digitalen Effekte. Aber ansonsten geschieht fast alles in meinem Studio. Ich glaube schon, dass ich meine Hände überall mit drinhabe. Und der Rest ist Vertrauen.

Sehen Sie die Menschen in Ihren Filmen auch als Skulpturen oder als Schauspieler an?

Skulpturen würde ich sie nicht nennen, Schauspieler aber auch nicht. Das hat eher mit Performance zu tun. Die Arbeiten, die ich vor meiner Teilnahme an der „documenta 9“ 1992 gemacht habe, beruhten tatsächlich auf Bildhauerei, ihr Video-Aspekt war mehr der Versuch, ein Ereignis in Echtzeit abzubilden. Das hat sich langsam in erzählerische Strukturen verwandelt. Das „Cremaster“-Projekt kommt aber immer noch aus dieser Disziplin. Die Menschen in den „Cremaster“-Filmen tun das, was ich in früheren Projekten getan habe: Sie aktivieren ein System von Objekten und erfüllen Aufgaben. Es geht mehr darum, einen Raum zu aktivieren als einen dramatischen Bogen zu projizieren.

Vor diesem Gespräch habe ich Sie nie ohne Maske gesehen. Warum gibt es solche Fotos nicht von Ihnen?

Das Spannende an meiner Arbeit ist, eine Sprache zu schaffen, die visuell kommunizieren kann, und so eine Platform für ganz andere Diskussionen zu haben. Mir scheint es nutzlos, ein eigenes Image zu haben, das vor dem Werk steht. Wenn das Werk funktioniert, ist es gut.

Wissen Sie schon, was nach dem „Cremaster“-Zyklus kommen wird?

Das ist die zurzeit beliebteste Frage …

Sie haben hoffentlich bemerkt, dass ich nicht nach Björk gefragt habe.

Vielen Dank. Der Zyklus ist beendet, aber die Ausstellungen in Köln, Paris und New York gehören für mich noch dazu, erst danach ist die Sache wirklich abgeschlossen. Es gibt aber einige Projekte, über die ich bereits nachdenke. An einem davon arbeite ich schon seit einigen Jahren, habe es allerdings aus Zeitgründen bislang nicht realisieren können. Ich möchte mit dem Musiker Arto Lindsay einen Wagen für den Karneval in Brasilien bauen.

Matthew Barney: „The Cremaster Cycle“. Bis 1. 9., Museum Ludwig, Köln. Publikationen (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern): „The Cremaster Cycle“. 528 Seiten, 78 Euro. „Cremaster 3“. 200 Seiten, 39,80 €.Informationen: www.museum-ludwig.de / Telefon (02 21) 22 12 61 65