ANTISEMITISMUS WIRD NICHT VON JUDEN BEFÖRDERT. ABER VON DER FDP
: So defensiv war Westerwelle nie

Eigentlich ist alles doch ganz einfach. Juden können ebenso wie Christen, Weiße ebenso wie Schwarze sehr unsympathisch sein und sogar Massenmörder. Sie können auch sehr nett sein. Nichts von alledem lässt weiter gehende Rückschlüsse auf ganze Bevölkerungsgruppen zu. Zieht jemand solche Folgerungen dennoch, dann ist das eine rassistische Argumentation. Ob das im Einzelfall nun Antisemitismus genannt wird oder nicht.

Diese ziemlich schlichte Erkenntnis war lange ein Grundkonsens in Deutschland, ebenso wie die Überzeugung, dass Rassismus in unserer Gesellschaft keinen Platz haben dürfe. Warum bemühen sich dann seit Wochen viele intelligente Leute um filigrane Definitionen dessen, was vielleicht gerade eben noch so durchgehen kann und was nicht?

Es ist Wahlkampfzeit. Niemals sonst lässt die politische Klasse so deutlich erkennen, dass sie die Bevölkerung für ein gänzlich unberechenbares Element ihres Kalküls hält – auf das sie dennoch große Rücksicht nehmen muss. Deshalb senden Politiker subtile Botschaften aus, deren Adressaten sie nicht genau kennen. Sie hoffen aber trotzdem, dass die Nachricht ankommt. Der Vorgang erinnert an Mitteilungen, die Raumfahrtbehörden an Außerirdische verfassen. Vielleicht gibt es die ja auch tatsächlich.

Der Kanzler sucht im Allgemeinen nicht gerade den öffentlichen Diskurs mit Intellektuellen und Künstlern. Dennoch trifft er den Schriftsteller Martin Walser – lange vor Beginn der Debatte über dessen jüngstes Buch, wohl aber zu einem Zeitpunkt, zu dem die Diskussion über antisemitische Tendenzen in Teilen der FDP bereits begonnen hatte. Wie kein anderer Autor von Rang steht Walser seit langem unter dem Verdacht des Antisemitismus. Bloß keine Stimme verschenken, scheint sich Gerhard Schröder gedacht zu haben.

Fernsehen ist wichtig, immer. Die Redebeiträge in der Talkshow von Sabine Christiansen haben mittlerweile den Rang offizieller Pressemitteilungen der Beteiligten, allerdings einen ungleich höheren Aufmerksamkeitswert. In dieser Sendung sind die Subtexte des Gesagten meist aufregender als der Punkt, um den es – scheinbar – geht. Das war letztes Mal nicht anders.

Niemals zuvor hat die Öffentlichkeit einen derart hilflosen Guido Westerwelle erlebt. Er hatte sich vordem bequem in der Rolle des Berufsoppositionellen eingerichtet. Sogar als Generalsekretär einer Regierungspartei war er diesem Charakterfach treu geblieben. Für einen Parteivorsitzenden genügt das aber nicht. Der muss die ungleich schwierigere Aufgabe erfüllen, auch aus der Defensive heraus zu überzeugen. Westerwelle hat hier bislang versagt. Wenn es dabei bleibt, dann dürfte er eine Fußnote in der Geschichte der FDP bleiben. Als Chef von Möllemanns Gnaden.

Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ließ in der Talkshow keinen Zweifel daran, dass die FDP auch dann noch der Wunschpartner der Union ist, wenn sie die Summe aus zwei plus zwei zu fünf erklärt. In taktischer Hinsicht ist das nachvollziehbar. Der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel argumentierte streitbar gegen Rassismus und empfahl sich damit als Hoffnungsträger der SPD für die Zeit der Opposition. Falls Schröder die Wahl gewinnt, hat Gabriel im neuen Spiel sowieso keine Aktien. Auch seine Argumentation hinterließ daher den unguten Geschmack, vor allem eigenen Interessen zu dienen.

Ein Paradigmenwechsel in der Politik lässt sich meist daran ablesen, wer unerwartet die eigene Position begründen muss. Gegner des Antisemitismus mussten das bislang nicht. Plötzlich gibt es jedoch Wohlmeinende, die finden, dass Jürgen Möllemann mit seinem Vorwurf an die Adresse von Michel Friedman durchaus Recht habe: Der Vizepräsident des jüdischen Zentralrats befördere mit seinem Verhalten tatsächlich den Antisemitismus. Das dürfe man aber nicht laut sagen, um kein Wasser auf diese Giftmühle zu lenken. Diese Wohlmeinenden haben Unrecht. Was wahr ist, darf immer gesagt werden. Es ist aber nicht wahr.

Keinem Juden kann es gelingen, Antisemitismus zu befördern. Nur ein Antisemit kann auf die Idee kommen, seine Position gegenüber einer ganzen Bevölkerungsgruppe aus der Abneigung gegen einen einzelnen Juden heraus zu begründen. Folgenlos aber bleibt der Paradigmenwechsel nicht. Die große Mehrheit möchte stets lieber mit dem als gegen den Strom schwimmen. In den letzten paar Wochen konnte sie den Eindruck gewinnen, milde Formen des Antisemitismus könnten in dieser Hinsicht als Schwimmflügel dienen. Das ist schrecklich. BETTINA GAUS