Kein Kuss für die SPD

DAS SCHLAGLOCH   von MATHIAS GREFFRATH

„Wir werden das angehen. Mit einer langen Wut. Also steh auf und sag das den andern Fröschen.“

Es war die Zeit, als Helmut Schmidt mit dem Satz „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“ Wirtschaftspolitik machte und mit „So’n Quatsch“ auf die Anti-AKW-Bewegung reagierte, die Zeit, über die Franz Müntefering sagt, es sei die schlimmste seines Lebens gewesen. Da schrieb die Kabarettistin Hannelore Kaub ein Gedicht, das hieß: „Ich hab von Peter Glotz geträumt“. Er habe an ihrer Bettkante gesessen, ihr die Hand gegeben und gesagt: „Küss mich“. Ob des lauen Händedrucks sei ihr ein Schauder über den Rücken gelaufen und sie habe „Nein“ geschrien. „Bitte, küss mich“, sagte der Glotz im glänzenden Anzug noch einmal, und seine Brille beschlug. Aber sie wollte immer noch nicht. Da habe er sie ganz lange mit traurigen Augen angeblickt: „Bitte tue es. Es ist für die Partei.“

Für die Partei, seufzte die Kabarettistin, also gut. Und sie küsste ihn. Da knallt es laut und auf dem Teppich saß ein glitschiger Frosch. Mit einer Hornbrille. Aber bevor sie kreischen konnte, flog ein dickes Engelchen durchs Fenster, mit dem Gesicht von Helmut Schmidt, blickte nach unten und rief: „So’n Quatsch, der Glotz, macht er wieder seine Froschnummer …“

Bundesgeschäftsführer Glotz rannte damals hin und her, von den Betonköpfen in den Bezirksleitungen und Kanzlerämtern, denen er von neuen Theorien in Italien, der ökologischen Krise, der verzweifelten Stimmung unter sensiblen Menschen erzählte, zu den Aktivisten der sozialen Bewegungen, um sie für die SPD einzufangen, mit dem leninschen Gedanken, dass eine kleine Veränderung mehr bringt als viele große Entwürfe. Und dabei wurde er immer dünner. Und dennoch schrieb er eine strategische Vision nach der anderen. An eine erinnere ich mich, es war wohl l984, da schrieb Glotz: Die deutsche Sozialdemokratie trete ein für den Erhalt der Arbeiterkultur im Ruhrgebiet, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Rettung des untergehenden Venedig. Aber da war die Partei schon in der Opposition, und Peter Glotz wurde Kolumnist und Professor für Kommunikation. Kürzlich fragte ich ihn, wo denn sein visionäre Energie hin sei, ob es sich um Verschleiß oder Resignation handele. Da blickte er mich mit traumlosen Augen an: „Wollen Sie mich etwa psychoanalysieren?“

Ich weiß, es ist unfair, über den traurigen Peter Witze zu machen, den letzten Visionär im Amt, den die Sozialdemokratie hervorgebracht hat. Denn der Faden zwischen Zeitströmungen, Zukunftsprojekten und Machtwillen ist endgültig gerissen. Selbst ein Glotz kann nur noch die Brocken nebeneinander stellen: Ja, sagt er in seiner Spiegel-Rezension des Lafontaine-Pamphlets „Die Wut wächst“. Ja, es stimmt, dass die Unabhängigkeit der Bundesbank nicht zeitgemäß ist, dass eine neue Finanzarchitektur her muss, dass die Shareholder-Ökonomie in wenigen Jahren brutale Kämpfe auch bei uns auslösen wird. Ja, die Agrarsubventionen müssen abgeschafft werden zugunsten der Südländer. Ja, die Politik der Hegemonialmacht USA führe uns in eine neue Weltordnung, in der „die reichen Länder unbemannte Tötungsmaschinen schicken und die armen mit Selbstmordattentätern gegen diese Übermacht kämpfen“. Ja, die Europäer müssen ums Verrecken die UNO stärken. Ja, ein neuer Keynesianismus müsse her gegen den Deregulierungswahn. Ja, ja, ja. Und noch einmal ja. Alles das sei nötig und würde in vielen Parteien der europäischen Linken eine lautstarke Rolle spielen – „im Jahr 2004 oder 2005“.

Heute und bei Lafontaine hingegen sei all das: „demagogisch, naiv, voluntaristisch, bloß getrommelt, ideologisch, linkspopulistisch, allenfalls in der PDS salonfähig, tolldreist, ja: irre Zuspitzung“. Wer von „Raubtierkapitalismus“ rede (wie ja auch Helmut Schmidt neuerdings), der bringe sich aus dem politischen Spiel, demselben, das allerdings „in wenigen Jahren brutal angefochten werden“ wird. Aber jetzt soll man nichts davon fordern, nicht einmal dergleichen reden?

Was ist das? Weiches Denken, von dem, der einst die Arbeit der Zuspitzung gepriesen hatte? Zynische Kalkulation des Kommunikationsprofessors auf die schnellen Rhythmen des TV-Denkens? Vasallentaktik, die weiß: ein Schröder-Wahlkampf kann nur mit schröderschem Programmverzicht geführt werden? Alzheimer einer alt gewordenen Partei: Das Grundwertegedächtnis funktioniert noch und in der Gegenwart das Reaktionsvermögen, aber der Faden zwischen beidem ist zerrissen? Sehnsucht nach Opposition?

Ich weiß es nicht. Aber vor langer Zeit, Helmut Schmidt war noch an der Regierung, fragte ich Peter Glotz, ob nicht ein Kanzler, der gegen die Macht des Kapitals wenig vermag, doch erfolgreich sein könne, wenn er die Aufgaben der Zeit klar bestimme und gleichzeitig sage, welche Widerstände zu überwinden, welche Opfer zu bringen seien. Kurz: ein Politiker, der seine relative Ohnmacht ausspreche. Vor dem Wahlvolk. Ob das nicht populär sein könnte? Etwa im Sinn: Wir wollen es, es ist sehr schwer, sehr teuer und wird sehr lange dauern – wollt ihr das? Ja, sagte da Peter Glotz, das wäre vielleicht ein Erfolgsrezept.

Ein Politiker, der seine relative Ohnmacht ausspricht. Vor den Wählern. Ob das nicht populär sein könnte?

Kürzlich habe ich geträumt. Ich saß im Bett und las ein altes Interview von Charles de Gaulle. „Europa geht unter“, sagte der. „Hélas. Aber das passiert nicht alle Tage. Schauen wir es uns an.“ Da kam ein Frosch durchs Fenster gesprungen, in gesprenkelter Nato-Tarnfarbe. „Die anderen, draußen, wollen zurück in den reaktionären Ständestaat“, quakte er, „küss mich, dann werde ich der Globalisierung eine Seele geben.“ Ich wollte den Frosch schon an die Wand werfen, da fiel mir die brave Soldatin Kaub ein, und ich schloss die Augen und küsste ihn. Es machte leise „plopp“, und auf dem Teppich stand Gerhard Schröder. Der blickte mich lange prüfend an. Und dann sagte er: „So’n Quatsch. Europa geht nicht unter. Wir müssen allerdings die Sozialsysteme auf Steuerfinanzierung umstellen, Ganztagsschulen mit mehr Lehrern einrichten, die Pharmaindustrie zähmen, die Arbeitszeit generell verkürzen und flexibilisieren, ein Grundeinkommen einführen, die Energie weiter verteuern, damit die Innovationen purzeln, das Schienennetz ausbauen und so weiter. Das alles ist zwingend, wegen uns und unserer Kinder. Auch die Erweiterung der EU, und die Integration wird kosten, aber die brauchen wir, schnell, damit die USA nicht ohne uns die neue Weltordnung mit Waffen und IWF und WTO machen. Aber das geht nicht mit einem Niedrigsteuerstaat. Und die Lohnsteuer ist nicht mehr zu steigern, also müssen wir die Mehrwertsteuern erhöhen, ebenso wie die Körperschaftssteuern, und die Erbschaften belasten. Und an die Kapitalgewinne ran, das wird aber nur gehen, wenn wir die Steueroasen kontrollieren und eine europaweite Einkommensteuer haben Und so weiter …“ Der Kanzler schnaufte: „Und wenn du glaubst, das geht schnell und ohne uns, dann mach dein Kreuz woanders. Aber wir werden das angehen. Mit einer langen Wut. Also steh auf und sag das den andern Fröschen. Und jetzt hol mir ein Bier, sonst mach ich nicht weiter hier.“

Von irgendwoher kam donnernder Applaus. Ich wachte auf, zwischen frisch und gerädert. „So’n Quatsch“, sagte das Gesicht im Spiegel, „immer diese alten Träume.“ Und mein Blick blieb an meiner Zahnlücke hängen.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt und arbeitet als Publizist in Berlin.