Vergeudete Zeit ist Freiheit

Geschichten von Identitätsauflösungen und von Momenten, in denen man aussteigt aus dem gewohnten Alltagstrott: Der australische Tischler, Tänzer und Performer Paul Gazzola mit seinem Stück „Bird Talk # 1–7“ im Theater am Halleschen Ufer

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Als Paul Gazzola einmal ein Buch über die Chaostheorie las, stellte er sich die Frage: Was hatte 1964, im Jahr meiner Geburt, entscheidende Auswirkungen auf mein Leben bis heute? Die Antwort fand er in einer Performance von Yoko Ono, „Cut Piece“, 1964 in Kioto uraufgeführt: Das Publikum war eingeladen, mit einer Schere kleine Stücke aus ihrer Kleidung zu schneiden. 1998 nahm der australische Performer auf einem Festival in Perth diese Geste auf. Denn erstens gefiel ihm die Einbeziehung des Publikums, zweitens der Verweis auf den langen Weg der Performancekunst und drittens das Benutzen von vorgefundenem Material. Er probiert es aus wie anderer Leute Kleider und schaut, wie fühle ich mich darin.

In flatternden Shorts und mit langen Koteletten kommt Paul Gazzola auf die Bühne des Theaters am Halleschen Ufer und zettelt in „Bird talk # 1–7“ ein Spiel über „replacement“ und „imitation“ an. Doch je mehr Fremdmaterial er aufführt – die tippelnden Beine einer Ballerina, den Hüftschwung von Elvis –, je mehr er die Quellen der Bewegungen aus Stücken anderer Choreografen offen legt – desto mehr wird er er selbst. Nicht zuletzt, weil die Fundstellen des Materials Abschnitte seiner eigenen Biografie markieren. Die trickreiche Volte seines Konzepts: durch die spezifische Beschreibung der Auflösung von Identität und Autorschaft solche wieder herzustellen.

In flatternden Shorts und mit langen Koteletten sitzt er im Café und freut sich auch nach über fünfzehn Jahren, die er zwischen Compagnien in Europa, Australien und mit eigenen Solos in der freien Szene unterwegs war, noch immer, in diesem Leben die Kunst gewählt zu haben. Nichts wies in seiner Jugend darauf hin, an die er sich hauptsächlich als Surfer erinnert mit wenig zwischen sich und dem Horizont. Dann lernte er Tischler. Mit zwanzig, erzählt er, besuchte er ein Tanzstück und schlief dabei ein; dennoch hatte er hinterher das Gefühl, eine Tür habe sich aufgetan, und er beschloss Kunst und Tanz zu studieren.

Gazzola liebt solche Geschichten von Momenten, in denen man aussteigt aus dem gewohnten Trott. „Man verschiebt den Focus ein bisschen und sieht plötzlich so viel mehr.“ Er erzählt von einem Mathematikprofessor, der die Lösung eines Problems nicht während seiner Arbeit fand, sondern als er sich davon einen Tag freinahm. Oder er denkt an den Tag, an dem es ihn eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, weil er abfliegen wollte; er hatte sich schon von allen verabschiedet, aber der Flug war gestrichen. Andere ärgern sich da über die verpasste Zeit, aber Gazzola entdeckte darin das Moment von Freiheit. Das Leben hält dann ein wenig den Atem an und beobachtet sich selbst.

Das interessiert ihn auch an der Feldenkrais-Technik, die er unterrichtet. Feldenkrais-Lehrer beobachten dich und helfen, alltägliche Bewegungen zu analysieren. Fast alles ist über Nachahmung gelernt, auch wenn man das längst vergessen hat. Wenn man sich aber der Herkunft der Gesten bewusst wird, dann ist es plötzlich auch einfacher, sie zu verändern.

Für Gazzola zählt nicht nur die Arbeit auf der Bühne. Er hat als Techniker gearbeitet und baut Bühnenbilder für andere Choreografen. Seine Ausbildung als Tischler setzt sich in der Liebe zum Handwerk fort. Für nächstes Jahr hat er einen Plan, weit entfernt von der Kunstszene Berlins; mit Freunden will er in Australien ein Haus bauen. So ist er immer auf der Suche danach, das „menschliche Potenzial“ auszuloten und auszuprobieren, „was man sein könnte“.

„Bird talk # 1–7“ im Theater am Halleschen Ufer, 6.–9. Juni, 20 Uhr