robin alexander über Schicksale
: Aufpasser, Spitzel, Kollegenverräter

Die Jobs von Dave und Tom klingen so, als veränderten sie den Charakter. Tun sie auch, aber anders als man denkt

„Herr, gib, dass kein Mord geschieht in dieser Nacht!“, betete ich jeden Abend, als ich zum ersten Mal auf englischem Boden schlief. Auf eben solche Weise flehte mein Mitreisender Uli gen Himmel. Nein, fromm und furchtsam waren wir auf der Insel nicht geworden, profan war unser Grund, metaphysisch zu werden: Uns trieb die Hoffnung auf zwei Spiegeleier, kross angebratenen Speck, warme Bohnen und gegrillte Tomaten. Ein englisches Frühstück, eine ebenso nahrhafte wie köstliche Mahlzeit und – so man mit kleinem Budget Großbritannien bereist – fast das einzig Essbare.

Besser als Dave, auf dessen Teppich wir unsere Schlafsäcke legen durften, briet unter den Brieten, äh Briten, niemand Ei und Speck. Jeden Morgen stellte Dave sich für uns an die Pfanne. Jeden Morgen, wenn die mittelenglische Grafschaft Yorkshire in der Nacht zuvor verschont blieb von Tot- und Mordschlag und anderen Kapitalverbrechen. Dave, Mittdreißiger, der Frau und vier Kinder, ein Reihenhaus mit hohen Fenstern, einen Mini-Snooker und eine Kaminimitation aus Asbest besitzt, ist kein Mörder, der, statt das Frühstück zu bereiten, von nächtlichen Untaten die Spuren verwischt. Im Gegenteil: Dave ist der Mann, der den Tatort nach Fingerabdrücken absucht.

Ein Polizist? War er einmal. Jahrelang diente der Kriminalist seiner Majestät, dann wurde Daves Behörde im späten Thatcherismus einer radikalen Aufgabenkritik unterzogen. Viel zählt seitdem nicht mehr zu den hoheitlichen Aufgaben – das Sichern von Fingerabdrücken auch nicht. Dave wird outgesourct, also entlassen – und sein eigener Unternehmer in Sachen Spurensicherung. Nur bei schweren Verbrechen rufen die Kollegen Dave. Der hat zwar keinen Job mehr, aber manchmal Aufträge. Wenn nicht, brät er Spiegeleier. Ein schönes Beispiel dafür, wie effizient Marktwirtschaft Ressourcen verteilt. Er darf nun auch Aufträge von privaten Unternehmen annehmen. Dave schwört, es wäre etwas anderes, im Namen seiner Majestät Spuren zu sichern als für einen Filialleiter Ladendiebe zu erwischen. Er zweifelt keinesfalls daran, dass Klauen im Büro und im Supermarkt ein Verbrechen ist. Aber klärt er auf Rechnung auf, fühlt er sich unwohl.

Seine Auftraggeber auch. Als staatlicher Ermittler war Dave eine Respektsperson, nun bitten ihn seine Klienten um Unauffälligkeit. Oder sie heuern ihn erst gar nicht an. Er brät viel Spiegelei in diesen Tagen – und verdient zu wenig Geld. Britischen Unternehmen scheint es in der Regel noch sehr peinlich, ihre Angestellten mit polizeilichen Methoden zu überwachen.

Viel weiter ist man in dieser Hinsicht in den USA. Mein Freund Tom und seine Frau Harley arbeiten in der Security eines weltberühmten Themenparks in Orlando/Florida. Hier kommt alles aus einer Hand: Die Hotels sind vom Konzern, die Attraktionen sind vom Konzern, das Eis ist vom Konzern – und das Gesetz ist auch vom Konzern.

Staatliche Polizei ist auf dem stadtgroßen Privatgelände nicht präsent, das machen die Leute von der Konzernsicherheit wie Tom und Harley. Überwachungskameras checken, welcher Angestellter etwas aus der Kasse abzweigt und wer die Belegschaft mit Dope versorgt. Tom hat schon als Begleiter eines Geldtransporters, als Ladendetektiv und als Kerkermeister in einem privaten Gefängnis gearbeitet. Und hat sich daran gewöhnt, dass „private law enforcement“, die private Strafverfolgung, vor allem ihren eigenen Gesetzen folgt. Am Küchentisch debattiert seine Familie mit den Gästen aus Deutschland den Fall eines Angestellten, der sich auf dem Firmenklo mittels Überdosis in ein besseres Jenseits begab. Das Management hat angeordnet, die Leiche verschwinden zu lassen. Der Firmenname solle nicht mit dem Wort Drogen zusammen in Zeitungsartikeln auftauchen.

Wie kommen die privat ebenso herzlichen wie charmanten Security-Profis damit zurecht, ihre Kollegen zu kontrollieren, zu überwachen und anzuschwärzen? Beliebt seien sie nicht gerade, erzählt Harley, aber es gebe ja noch „die Liste“. Die Liste? Eine Art Ranking der überführten Angestellten, eine Hitparade der geschnappten Übeltäter, gestaffelt nach Platz in der Hierarchie des Unternehmens. Die obersten zehn werden jedes Jahr veröffentlicht – mit Angabe ihres Gehaltes – und dazu die Namen des Angestellten aus der Security, der sie überführte. So wird im entwickelten Kapitalismus sogar die soziale Isolation der Betriebs-Stasi zur Motivation genutzt. Für ein anerkennendes Schulterklopfen der Kollegen muss ein Aufpasser schon einen Abteilungsleiter zur Strecke bringen.

Fragen zu Schicksal: kolumne@taz.de