Wenn das Los entscheidet

In Afghanistan soll eine Ratsversammlung eine neue Übergangsregierung bilden. Doch zunächst einmal werden Wahlmänner und 1.500 Delegierte gewählt. Auch die Frauen beteiligen sich

aus Kabul SVEN HANSEN

Auf dem Hof der Rukshana-Mädchenschule in Kabuls Distrikt VI stehen 800 Männer in der prallen Sonne. Im Schatten der Bäume warten 200 Frauen in ihren blauen Burkas. Als Erste wählen die Männer nach Unterbezirken getrennt per Akklamation 16 Wahlmänner. Das geht zunächst reibungslos.

In vielen Unterbezirken des überwiegend von schiitischen Hasara und von Tadschiken bewohnten Stadtteils hat man sich vorab auf die Kandidaten für die erste Wahlrunde zur Loja Dschirga, der ab Montag nächster Woche tagenden großen Ratsversammlung Afghanistans, geeinigt. Der Wahlleiter ruft einzeln die Kandidaten auf. Sie werden von ihren Anhängern mit Jubel begrüßt. Folgt kein Protest, gilt der Kandidat als konsensfähig und gewählt, sofern es nicht mehr Kandidaten als Wahlmännerplätze gibt.

„Im ersten Wahlgang werden meist Leute gewählt, die vor Ort wichtig sind. Die Bevölkerung will von diesen Leuten vertreten werden“, meint eine westliche Wahlbeobachterin, die anonym bleiben will. 27 internationale Beobachter helfen in den 390 Bezirken des Landes mit, dass die Wahlen halbwegs fair verlaufen. „Mangels Wahlregister und verlässlicher Bevölkerungsstatistik kann es nicht nach streng demokratischen Regeln gehen, sondern nur nach breiter Akzeptanz“, meint die Beobachterin.

Der Unterbezirk Kartese kann sich jedoch nicht auf seine zwei Männer einigen. Stattdessen bedrängen fünf erregte Kandidaten das auf einer Bühne sitzende Wahlkomitee. Eine zunächst durchgeführte „Abstimmung“ scheitert, weil Jubel und Protest gleich stark sind. Steht das Komitee kurz vor einer Entscheidung, wird es von den um ihren Sieg fürchtenden Kandidaten bedrängt, dass dies völlig inakzeptabel sei. Mehrmals müssen sie beruhigt werden. Polizisten räumen immer wieder die Bühne.

Das Wahlkomitee entscheidet, zu losen. In einem geschützten Raum nimmt der Wahlleiter seinen Turban ab und legt fünf Zettel hinein, davon zwei mit der Aufschrift „Kandidat“. Die Wahlbeobachterin zieht die Lose. Doch kaum sind die zwei Wahlmänner ermittelt, protestieren die Verlierer. Schließlich zweifelt auch das Wahlkomitee an der Weisheit der Entscheidung. Nach erregter Diskussion bricht es die Wahl ab und beschließt, dass die zwei Wahlmänner für Kartese von der unabhängigen Loja-Dschirga-Kommission ernannt werden. Die organisiert die Ratsversammlung und fungiert als Schiedsgremium.

Jetzt kommen die Frauen vor die Bühne. Sie sind disziplinierter und tragen sogar Wahlplakate. „Hosnia kann unsere Probleme lösen“, heißt es auf einer Schwarzweißkopie, die eine Frau mit Koptuch zeigt. Doch auch die Frauen sind sich nicht einig. Vier Gruppen reichen Listen mit 34 Kandidatinnen ein. Fünf müssen ausgewählt werden. Das Komitee geht die Listen durch. Eine Frau steht auf drei Listen, acht auf zwei. Die dreifach nominierte Hosnia hat also den größten Rückhalt. Das Wahlkomitee ruft die mehrfach nominierten Frauen in einen Raum und schlägt vor, dass Hosnia gewählt ist. Die anderen nicken. Jetzt müssen noch vier Frauen aus den acht ausgewählt werden, die doppelt nominiert wurden. Schließlich wird auch bei den Frauen per Los aus dem Turban entschieden.

Die Auswahl der Delegierten ist zweifellos unbefriedigend. Doch die Loja Dschirga ist schon wegen der Vetretung aller Regionen ein Fortschritt gegenüber der Bonner Afghanistan-Konferenz, die im Dezember die jetzige Regierung bestimmte. Wenn der 87-jährige Exkönig Sahir Schah den Rat eröffnet, wird seine künftige Rolle im Mittelpunkt stehen. Denn entschieden wird über das Staatsoberhaupt, eine neue Übergangsregierung, ein provisorisches Parlament sowie ein Verfassungskomitee.

Eigentlich sollte der Exkönig den bisherigen Übergangsregierungschef Hamid Karsai unterstützen. Doch jetzt wollen viele Paschtunen, dass Sahir Schah eine wichtigere Rolle spielt als Karsai, auch wenn beide Paschtunen sind. Karsai wird übel genommen, dass er sich von den die Regierung dominierenden Tadschiken für das Amt des Staatsoberhaupts nominieren ließ. Kritiker erwarten jetzt einen Machtkampf mit dem König. Karsais Anhänger gehen davon aus, dass der Exmonarch auf politische Macht zugunsten Karsais verzichten wird und sich wenig an den Machtverhältnissen ändert.