Aneinander vorbeireden – Das macht Sinn

Der Mitleidsbonus wirkt nicht mehr. In seinem zehnten Jahr hält sich das Obdachlosentheater „Ratten 07“ mit dem Stück „Kasimir und Karoline“ von Ödön v. Horvárth selbst den Spiegel vor. Underdogs spielen Underdogs und machen aus ihrem Leben ein starkes Stück Theater. Von WALTRAUD SCHWAB

Straßburger Straße:Das Theater

Das Obdachlosentheater „Ratten 07“, das zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gehört, füllt die Säle nicht mehr. Das mag an den viel beschworenen Krisen – den finanziellen und ästhetischen – liegen, aber auch daran, dass vom Mitleidsbonus nicht länger eine mitreißende Wirkung ausgeht. Lustgewinn, der sich einstellen soll, sobald das Elend anderer dargeboten wird, ist nicht mehr Sinn stiftend. Es gibt zu viel davon. Dass darin eine Chance liegt, hat Stephan Müller, der neue künstlerische Leiter und Regisseur der „Ratten 07“, erkannt. Weiß er doch, dass sich erst unter den Bedingungen, die für alle Off-Theatergruppen gelten, zeigt, ob sich die Stars ohne festen Wohnsitz von der Kunst herausfordern lassen oder nicht.

Müller hat als Vorlage für seine Inszenierung „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horvárth gewählt. Der Autor, der 1938 in Paris während eines Gewittersturms von einem Baum erschlagen wurde, liebte es volksnah, sozialkritisch und derb. Anders als beim Original hat Müller für diese Inszenierung jedoch den Schauplatz verlegt. Nicht auf dem Oktoberfest spielt das Alltagsdrama, sondern in einer Tiefgarage. Und wo bei Horvárth noch Hau-den-Lukas, Kuriositätenkabinett und Zeppelin für Atmosphäre sorgen, rennen in dieser Betonhöhle lieber die Hunde der Punks um die Wette.

Verweise auf das Leben der Obdachlosen finden sich in der Inszenierung noch mehr. Subtil gewählt, verbreiten sie als visuelle Metaphern eine eigenwillige Poesie. So hängt das Bett, auf dem Kasimir und Karoline (gespielt von Abel vom Acker und Flo[Chen] Pärrsenrekka) ihre Trennung ausprobieren, in der Luft. Die Decke, mit der sie sich vor der Kälte schützen, ist zu klein und reicht nur noch für einen von ihnen.

Eineinhalb Stunden lang reden die zwölf Protagonisten aneinander vorbei. Keiner kommt beim anderen an, aber viel weniger noch bei sich selbst. Mit Liebe soll das zu tun haben. Mit Eifersucht, großen Gefühlen und noch größerem Scheitern, das die Figuren in zwischenmenschlichen Halbsätzen abhandeln. Zumindest literarisch liegt in inkohärenten Dialogen eine sinnstiftende Tiefe. Am Ende des Dramas beginnt alles wieder von vorn. Denn im Horvárth’schen Sinne gilt: „Die Liebe höret nimmer auf.“

„Das Stück ist den Ratten auf den Leib geschrieben“, sagt Stephan Müller. „Weil der Tatbestand des Miteinanderredens erfüllt ist.“ Was genau gesagt wird, steht dahin. Müller wagt es, die Underdogs, die hier die Stars sind, nicht zu idealisieren, sondern sie etwas spielen zu lassen, was sie selbst sein könnten.

Als Spielort wurde die Tiefgarage auf einem Hinterhoffabrikgelände aus verwaschenem Plattenbeton gefunden. Der Universalschick des Funktionalen inspiriert Grenzgänger und Investoren. Ein Gitter trennt den Hof von der Straße. Tagsüber offen, wird er von Lastwagen und Fuhrbetrieben genutzt. Wie ein versteckter Höhlenaufgang wirkt die Auffahrt unter die Erde. Drinnen logierte die ehemalige Fahrbereitschaft des Zentralkomitees der SED, Honeckers schwarze Limousinen. Ein historischer Ort.

Von Anfang an schwebte Stephan Müller für „Kasimir und Karoline“ eine kalte, unromantische Kulisse in der Nähe der Volksbühne vor. Mit der leer stehenden Tiefgarage der DDR-Sonderklasse, deren Betonpfeiler auch 12 Jahre nach dem Ende des Staates noch in Original-Orange leuchten, werden über diesen Umweg Gesellschaftskritik und die neuere deutsche Geschichte ins Stück geholt. Nicht wenige der derzeitigen Truppe der „Ratten“ nämlich haben eine Ostvergangenheit mit besten Bildungsvoraussetzungen. Die Wende in die westliche Konkurrenz- und Konsumgesellschaft aber haben sie nicht geschafft. Dafür dürfen sie nun zur Volksbelustigung auf einen Mercedes mit dem russischen Nummernschild „ZK 2002“ einhämmern.

Im Gegensatz zu früheren Stücken der „Ratten“ werden die Darsteller von der Straße nicht zu den eigentlichen Helden stilisiert. Auch wird den Zuschauern, ihr gesellschaftlicher Stand nicht vorgeworfen. Kein „Ihr“ und „Wir“ gibt es, mit dem die eigene Situation doch so fein entschuldigt werden kann. Bei dieser Inszenierung wird nur gescheiterte Kommunikation geboten. Mit all ihrer Rohheit und Ausweglosigkeit. Weil die Schauspieler aber zu keiner Zeit einen Hehl daraus machen, dass sie sich damit bestens auskennen, und weil es jeden Augenblick so sein könnte, dass sie das, was sie sagen, nicht vorher auswendig gelernt haben, sondern genau jetzt so meinen, wie es ihnen über die Lippen kommt, ist die Inszenierung ein starkes Stück Theater.

Weitere Aufführungen in der ehemaligen Fahrbereitschaft des ZK, Straßburger Str. 6–9 am 6.–8. und 12.–15. Juni um 20.30 Uhr

Gitschiner Straße: Das Obdach

Bei Traubensaft, so rot wie Campari, und Wasser, so glasklar wie Schnaps, verbringen ein paar der „Ratten“ in der Obdachloseneinrichtung in der Gitschiner Straße 15 ihre Tage. Dietrich Reimer, der Einäugige, der in „Kasimir und Karoline“ den „Rauch“ spielt, schließt morgens das Backsteingebäude auf, das direkt ans Prinzenbad grenzt, und putzt. Der an sich Wortkarge sagt: „Mir wird in der Inszenierung einer geblasen“, und bringt sich so leichter in Erinnerung. Vom Gestöhne her hätte es auch Folter sein können und dass der Höhepunkt als schillernde Seifenblase zerplatzt, kommt gut als gespielte Metapher. Reimers Leben war zu Ostzeiten, als er Kellner an der Ostsee war, gut. Aber noch in der DDR ist er kriminell geworden. „Geklaut und so.“ Seither sei sein Leben Scheiße.

Auch Tina ist da. Im Stück ist sie „dem Merkl Franz seine Erna“. Von Beruf „Metalloge und Koch“. Tina, die nur ihren Vornamen preisgibt, ist 40 und sieht älter aus. „Wenn eine physisch so schwer gearbeitet hat, dann macht das alt“, meint Rosi Dogan, die Informatik studiert hat und in „Kasimir und Karoline“ mit Beckett’scher Melancholie eine Kloputzerin spielt.

Tina und Rosi haben sich im Übergangswohnheim für Frauen in Kreuzberg kennen gelernt. „Manchmal kriegt das Leben so ’nen Knick“, sagt Tina. „Bis 1996 ging es gut, dann schlecht“, sagt sie. Scheidung, Frauenhaus, Obdachlosigkeit. „Psychische Gewalt ist auch Gewalt“, erläutert Rosi.

Bei ihr selbst war das Leben bis 1990 super, seither aber nicht mehr. Sie wurde von drei Rechtsradikalen fast totgeschlagen, als sie sie mit ihrem Palästinensertuch auf dem Kopf für eine Ausländerin hielten. Ein Monat Koma, ein Jahr Krankenhaus und halbseitige Lähmung. Danach Phobien, Schmerzen, Morphium, erzählt sie. Rosi ist nicht mehr aus dem Haus gegangen, „in jedem hab ich einen Feind gesehen“. Scheidung, Zerrüttung, Depression, das hat sie aus der Bahn und letztendlich sogar auf die Straße geworfen. Sie hat Platte gemacht. „Als Frau ist man auf Trebe absolut nicht geschützt. Ich hab immer versucht, adrett und gewaschen zu sein.“ Obwohl sie unter Brücken, auf Parkbänken, in Kellern geschlafen hat. Alkohol ist nicht ihr Problem, aber der Morphiumentzug war hart. Psychopharmaka kriegt sie bis heute.

Held der Truppe, die sich in der Gitschiner herumtreibt, ist Horst Schreiber. „Zuerst war mein Leben gut. Aber die Ruhephase war Scheiße. Langsam geht’s aufwärts“, fasst er seine Biografie in schönen Worten zusammen. In der Gitschiner ist er „Mädchen für alles“, was er mit Roady-Appeal gerne erledigt. Im Stück ist er der Merkl Franz. Mit Erna alias Tina zusammen ein geniales schauspielerisches Duo.

Jede Bewegung des fast 50-Jährigen mit dem Bilderbuchsäufergesicht ist verlangsamt. Das gibt ihm Eleganz und Autorität. Ansonsten hat der gebürtige Weddinger es noch zum Abitur gebracht. „Der hat was auf dem Kasten“, sagt eine Besucherin der Gitschiner. „Der ist beliebt.“

Die Rolle des Alkoholikers, der seine Frau Erna wie ein Stück Dreck behandelt, verkörpert er perfekt. Selbst wenn er nur herumsteht, zeigt Schreiber Präsenz. Rumstehen hat er gelernt. Im Knast zum Beispiel. Da sei er in der Zelle von Fritz Teufel gehockt, erzählt er. Und auch als „Berlin Alexanderplatz“ gedreht wurde, hätte er tagelang am Rande gestanden und zugeguckt. Am Ende hätte Fassbinder ihn nach München eingeladen, um mit ihm zu koksen. Schreiber bringt seine Geschichten so vor, dass Zweifel ausgeschlossen sind. Kaum ist er weg, stellen sie sich doch ein.

„Mörderhotte aus dem Wedding“ wurde Schreiber genannt. Am Finger trägt er einen Totenkopfring, am Arm die Tätowierung mit Schlange und Schwert. Im Suff hat er einen umgebracht. „In Notwehr“, sagt er. Sechseinhalb Jahre war er im Knast. Seinen Traum, Wirtschaftsjurist, konnte er danach nur noch im Übertragenen verwirklichen. Als Kneipier etwa, als Heizer bei der Reichsbahn, als Beleuchter beim Film, als Gerüstbauer bis zum 4. Stock. „Höher nicht.“ Außer Stahlkocher und Hauptkommissar bei der Mordkommission sei er schon alles gewesen. Platte hat er mehr als drei Jahre gemacht. Jetzt möchte er: „reich werden“. Er greift nach dem Bier, das hier zu seiner Überraschung nicht auf dem Tisch steht. In der Gitschiner ist Alkohol verboten. „Wie reich werden?“, wird er gefragt. „Da fällt mir schon was ein.“

Um vier macht die Tagesstätte für Erwachsene zu. Hotte weist seine Hiwis an, draußen im Garten die Sonnenschirme einzuräumen. Dann macht er sich auf den Weg vor die Tür, „um den Wüstenbrand zu löschen“. Beim Weggehen berauscht er sich schon mal an der Sprache: „In der Kehle die Wüste Gobi und im Bett die wüste Gabi.“