Zu lang im Buggy fördert Sprachprobleme

Der Sprachwissenschaftler Sven Walter hält Sprachdefizite bei Kindern für ein soziales Problem. Viele junge Eltern seien überfordert. Sie reden zu wenig mit ihren Kindern und wissen nicht, dass Bewegung wichtig für Spracherwerb ist

taz: Herr Walter, die Sprachstandserhebungen zeigen, dass nicht nur Migrantenkinder, sondern auch ein erheblicher Anteil der deutschen Kids für die Schule nicht ausreichend Deutsch beherrscht. Überrascht Sie das?

Sven Walter: Nein, das war zu erwarten. Unsere Untersuchungen in Kindertagesstätten, unter anderem auch mit dem Verfahren Bärenstark, kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

Wo liegen die Ursachen?

Die Ursachen sind im Wesentlichen die gleichen wie bei Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache. Viele Kinder mit geringer Sprachkompetenz im Deutschen kommen aus Familien, die als bildungsfern zu bezeichnen sind. Außerdem spielt die soziale Situation der Eltern eine ganz große Rolle. Wobei da ein Paradox auftaucht.

Welches?

Man könnte annehmen, dass arbeitslose Eltern Zeit haben, sehr viel mit ihren Kindern zu unternehmen und vor allem: viel mit ihnen zu sprechen. Aber offensichtlich ist die Arbeitslosigkeit eine psychisch so belastende Situation, dass viele dieser Eltern das trotzdem nicht können. Verschärfend kommt hinzu, dass den deutschsprachigen Kindern in manchen Kitas die ausreichende Anzahl an Gesprächspartnern im Deutschen fehlt, was für das Peer-Group-Learning, das Lernen von und mit anderen Kindern, sehr wichtig ist.

Das Sprachproblem ist also keine Frage des Herkunftslandes, sondern der Schicht.

Ja, zur Hälfte wird die Debatte in Berlin wirklich falsch geführt. Es ist im Wesentlichen ein soziales Problem.

Was muss passieren?

Eigentlich müsste es schon in den Schulen ein Pflichtfach geben, wie werde ich ein guter Vater, eine gute Mutter. Das hört sich übertrieben an, aber anscheinend haben viel junge Menschen nur sehr geringe Vorstellungen davon, was es heißt, für die Entwicklung eines kleinen Kindes verantwortlich zu sein.

Haben Sie auch praktikable Vorschläge?

Man muss alle Eltern frühzeitig informieren, und zwar, soweit nötig, in ihrer Herkunftsprache. Das geht zum Beispiel während der Schwangerschaft über Frauenärzte und dann über Kinderärzte. Man muss den Eltern deutlich machen, wie wichtig die frühkindliche Förderung besonders bei der Wahrnehmung und der Motorik ist. Viele Kinder erleben einfach zu wenig und bewegen sich zu wenig, aber das sind die Grundlagen für einen erfolgreichen Spracherwerb. Am wichtigsten ist natürlich, dass Eltern viel mit ihren Kindern sprechen.

Was ist der Zusammenhang von Motorik und Sprache?

Das ist neurophysiologisch bedingt: Die Bereiche im Gehirn, die für die Sprachproduktion zuständig sind, stehen in direkter Wechselwirkung mit den für Bewegung zuständigen Bereichen, sie sind Teil davon. Wenn ich Dreijährige sehe, die noch im Buggy spazieren gefahren werden, dann steht zu befürchten, dass diese Kinder Probleme mit ihrer sprachlichen Entwicklung bekommen werden. Oder schon haben.

Wie sieht die Situation in den anderen deutschen Großstädten aus?

In Hamburg, Frankfurt und München ist die Situation wohl recht ähnlich. Man muss vorsichtig sein, weil es keine vergleichbaren Untersuchungen in diesen Städten gibt, auch wenn sich Hamburg seit einigen Jahren bemüht, den Sprachstand von Kindern systematisch zu erfassen. Das ist aber noch in der Erprobungsphase. Das Sprachproblem ist vor allem ein Problem der Innenstädte. Kinder haben hier viel weniger Möglichkeiten, sich selbst zu bewegen, ihre Umwelt zu erkunden und dabei ihre Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeiten zu entwickeln, als auf dem Land. Für den Spracherwerb sind aber gerade die ersten Lebensjahre die wichtigsten, hier werden die Grundlagen gelegt – und zwar von den Eltern. INTERVIEW: SAM