Büffeln im Vorschulodasina

Elf Kitas der AWO erproben eine neues Förderungskonzept, um Kinder für die Schule fit zu machen. Für jede Gruppe gibt es zwei Erzieherinnen mit unterschiedlichen Muttersprachen. Die kennen durch Sprachtests die Stärken und Schwächen der Kids

von ULRICH SCHULTE

Manche Sätze sind leicht zu verstehen. Egal, in welcher Sprache sie gesagt werden. „Lütfen burayi toplayin, vorschulodasina gidiyoruz!“ Türkisch. Ausrufezeichen. Funkelnder Blick auf das tobende Mischmasch aus Kindern und Spielzeug im Bewegungsraum. „Räumt ihr hier bitte auf, wir gehen jetzt in den Vorschulraum“, wiederholt Erzieherin Sebnem Akbaba. Auf Deutsch und in einem Ton, der das Folgen mehr als nahe legt. Es wirkt. Marie und Melissa klettern von der Sprossenwand, Serkan kriecht aus dem Spielzelt.

Es ist zehn Uhr, Zeit für die drei Stunden, in denen die Kinder zweimal wöchentlich auf die Grundschule vorbereitet werden. In der regelmäßigen Übung des künftigen Unterrichts unterscheidet sich die deutsch-türkische Europa-Kindertagesstätte der Arbeiterwohlfahrt (AWO) an der Blücherstraße nicht von anderen Kitas. Doch sie probt gleich in zweierlei Hinsicht einen neuen Umgang mit Sprache. Laut Gründungskonzept spielen und lernen die Kinder hier zweisprachig – auf Deutsch und auf Türkisch. Je zwei Muttersprachlerinnen betreuen eine Gruppe. Zum Zweiten, und das ist neu, hat die AWO in Kooperation mit dem Berliner Institut für kreative Sprachförderung das Sprachvermögen der Kinder in elf Kitas im September 2001 testen lassen – mit dem standardisierten Sprachcheck „Bärenstark“. Nach dieser Evaluation, so das Ziel des AWO-Konzeptes, sollen die Kinder mit Übungen sprachlich fit gemacht werden für die Schule. Der Bedarf ist da: Bei acht von elf getesteten Kindern der Europa-Kita macht die Auswertung des Tests einen „Förderbedarf“ aus, bei zweien gar „intensiven Förderbedarf“.

Für die Erzieherinnen war die Konfrontation mit den Lücken der Kinder nicht einfach. Sebnem Akbaba blättert in Protokollbögen aus Neuköllner Kitas. Ein junger Proband beschrieb eine Schwimmbadszene mit Rutsche und Dusche, bei der Kinder zusammen toben und sich nass spritzen, lapidar mit „Mädchen, Jungs und eine Leiter und eine Bade“. Eine schlichte Reihung von Substantiven, eine Wortschöpfung, von einem Verb findet sich keine Spur. „Und so reden Sechsjährige“, sagt Akbaba. „Erst dachte ich, ich sei vielleicht schuld an den Problemen.“

Dieses Gefühl gab sich schnell. In dem halbstündigen „Bärenstark“-Test konnte sich Akbaba mit jedem Kind einzeln auseinandersetzen und dessen spezielle Schwächen erkennen. Als Konsequenz stellt sie bei sich und ihren Kolleginnen nach einem Schulungsseminar einen bewussteren Umgang mit Sprache fest. Eingeschliffene Phrasen des Kitaalltags würden jetzt überprüft. „Wir sagen nicht mehr einfach nur: ‚Zähne putzen‘, sondern: ‚Wir gehen gleich raus, bitte putzt euch vorher die Zähne.‘“

Je früher sie solch sorgfältige Kommunikation erfahren, desto besser für die Kinder. „Wenn sie mit drei Jahren bei uns anfangen, dann kommen sie später in der Schule mit. Kommen sie erst vierjährig, ist das wesentlich schwieriger“, sagt Kitaleiterin Adalet Özulusal. Ein Pfeildiagramm an ihrer Bürowand erklärt das Sprachkonzept. Ganz oben stehen zwei Worte: „angstfrei Lernen“. Es gelte das Prinzip, dass jede Erzieherin mit den Kindern möglichst nur in ihrer eigenen Muttersprache redet – entweder deutsch oder türkisch. So wird in beiden Sprachen eine möglichst korrekte Vermittlung angestrebt. Die Muttersprache zu beherrschen ist laut Özulusal Voraussetzung für Migrantenkinder, fehlerfrei Deutsch zu lernen. „Wer über einen großen Wortschatz verfügt und Grammatik wie Satzbau versteht, lernt eine Fremdsprache leichter.“

Im Vorschulraum, oder eben dem „vorschulodasina“, verbreiten ein gekacheltes Pult und eine Tafel eine gelehrige Atmosphäre. Erzieherin Akbaba und die neun Kinder sitzen an zwei kniehohen Tischen und lernen. Lernen? Die Erzieherin ruft ein zusammengesetztes Wort in den Raum, dann klatschen alle in die Hände und wiederholen. „Zi-tro-nen-li-mo-na-de!“ Sprachexperten würden jetzt nicken und etwas von „Silbentrennung“ oder „deutlichem Artikulieren von Vokalen“ murmeln. Marie, Melissa und Serkan schreien laut mit und haben einfach Spaß.

In der großen Runde, etwa im Stuhlkreis, besteht die Gefahr, dass nur die sprachlich Überlegenen antworten. „Gezielte Ansprache ist wichtig“, sagt Akbaba. Deshalb stimmt sie Spiele auf einzelne Kinder ab: Ein Junge, der in dem Sprachtest links und rechts durcheinanderbrachte, kommt jetzt häufig bei „Mein linker, linker Platz ist frei“ an die Reihe. Besonders oft hakt es bei vermeintlichen Kleinigkeiten. Viele Kinder haben etwa Probleme mit der richtigen Zuordnung von Artikel oder Präposition. Für „der“, „die“, „das“ stehen in der Kita daher verschiedene Farben. Beim Memory-Spiel ordnen die Kinder Karten den richtigen Artikelfarben zu. Die Baumkarte etwa auf ein blaues Pappfeld, die Taschenlampenkarte auf ein rotes. Im Bewegungsraum lernen die Kinder Präpositionen so, wie es schon das Monster Grobi in der „Sesamstraße“ vormachte: mit Bewegung und vollem körperlichem Einsatz. „Samba, klettere doch mal auf den Tisch.“ Frage an die Runde: „Wo ist Samba?“

Derlei spielerische Sprachübungen erfinden die Erzieherinnen selbst in monatlichen Treffen, andere Tipps kommen vom Institut für kreative Sprachförderung, wieder andere haben Logopäden der AWO entwickelt. „Schon beim einfachen Vorlesen kann man Sprachanlässe schaffen – indem die Erzieherin die Kinder zwischendurch immer wieder fragt, wie sie das erleben“, sagt Maria Lingens von der Fachberatung Kindertagesstätten bei der AWO. Als Sozialpädagogin betreut sie das Sprachprojekt und vernetzt die Kitas innerhalb ihrer Organisation. Aufgrund des hohen Eigenengagements sei die besondere Förderung relativ kostengünstig, so Lingens. Die beiden Erhebungen der kindlichen Sprachkenntnisse kosten zusammen rund 7.000 Euro.

Um den Erfolg des Projektes messbar zu machen, sollen die Kinder der AWO-Kitas nun noch einmal getestet werden. Dem Termin fiebern auch die Erzieherinnen entgegen. Adalet Özulusal glaubt bereits jetzt fest an eine Besserung. In der Vorschulgruppe, die verstärkt gefördert wird, hat sie „rasante Fortschritte“ bemerkt – auch ohne Test.