Von Kanalgräbern und Deichbauern

Im April trat in den Niederlanden das Sterbehilfegesetz in Kraft. Das ist den Niederländern ziemlich egal, denn die Praxis ging dem Gesetz bereits jahrelang voraus. Dieser Pragmatismus in Sachen Leben und Tod lässt jedoch viele Deutsche erschaudern

„Wenn man den auf dem Tisch liegen lässt, wird doch kein Mensch daraus.“

von ANNEMIEKE HENDRIKS

Kürzlich wurde auf einer deutsch-niederländischem Veranstaltung in Amsterdam beschlossen, dass die Beziehung der beiden Nachbarvölker nun wieder „völlig okay“ sei. Der Krieg sei jetzt wirklich vorbei. Bereits einige Wochen zuvor fand in Potsdam eine andere deutsch-niederländische Begegnung statt. Und dort kamen die Teilnehmer zu einem anderen Ergebnis. Das Thema: Bioethik.

Rund 150 Politiker, Wissenschaftler, Ärzte und Diplomaten dikutierten auf der 6. Deutsch-Niederländischen Konferenz in Potsdam über Beginn und Ende des menschlichen Lebens. Es wurde ein internationaler Wettkampf mit Themen der Bioethik als Spielball. Deutlich wurde: Deutsche und Niederländer verstehen wenig bis gar nichts von den biotechnologischen und sterbebegleitenden Spielregeln der anderen. Und der Krieg ist noch lange nicht vorbei. Die Deutschen bleiben in der Offensive, die Niederländer in der Verteidigung. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zur früheren Situation: Diesmal sind es angeblich die Niederlande, die sich auf dem direkten Weg Richtung Nazipraktiken befinden, und Deutschland spielt die Rolle des warnenden Nachbarn.

Der Amsterdamer Strafrechtsgelehrte Frits Rüter begann seinen Vortrag in Potsdam mit einer Provokation: „Ich bin 72, also im euthanasieberechtigten Alter – und ich lebe noch immer.“ Das war eine klare Anspielung auf die Berliner Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau im vergangenen Jahr.

Rau hatte ein überzeugtes Plädoyer für den Schutz des Embryos und des sterbenden Menschen gehalten. Dabei verurteilte er die „jährlich tausend Fälle“, in denen „lebensbeendende Handlungen“ ohne ausdrücklichen Wunsch des Getöteten vorgenommen worden sind. Der Bundespräsident sprach sich auch gegen die Präimplantationsdiagnostik (PID) aus, wie sie etwa in Maastricht angewendet wird. Die in Deutschland verbotene Methode wird in Maastricht auch von einigen deutschen Paaren genutzt, um ein gesundes Kind zu bekommen.

Die von Rau angesprochenen „tausend Toten“ verfolgten die niederländischen Konferenzteilnehmer in Potsdam. Es handelte sich dabei um eine Angabe aus niederländischen Statistiken, die auch ganz offen im Konferenzmaterial abgedruckt war. Die zugrundeliegende Untersuchung von 1995 belegt, dass die große Mehrheit dieser Menschen entweder bereits im Sterben lagen, als sie Sterbehilfe bekamen, oder dement waren und aus Angst vor einer solchen Situation zuvor eine Sterbehilfeerklärung abgegeben hatten. Vergleichbare Untersuchungen in Australien und Belgien, wo Sterbehilfe verboten ist, beziehungsweise war, zeigen, dass aktive Sterbehilfe „ohne ausdrücklichen Wunsch“ dort fünfmal so oft vorkam wie in den Niederlanden. Im vergangenen Monat verabschiedete auch das belgische Parlament ein Gesetz, das Sterbehilfe unter bestimmten Voraussetzungen zulässt.

„Tabu“ ist in unserem Land ein Wort mit negativer Konnotation. Es steht für Handlungen, die verboten sind und dennoch stattfinden – im Verborgenen. „Tabubruch“ ist also ein positives Wort, es steht für öffentliche Erfassung und deswegen auch Kontrolle. In Potsdam traute sich jedoch keiner der anwesenden Deutschen, eine Sterbehilferegelung wie bei den Nachbarn öffentlich zu befürworten.

Der spontane, tolerante Niederländer ist in Deutschland gern gesehen. Aber wenn es darum geht, Lebensfragen zu regeln, werden die Niederländer zum Schreckgespenst. Ärztliche Sterbehilfe, die straflos bleibt, sofern sie nach festgelegten Regeln erfolgt, wird mit den Selektionsmechanismen der Nazis verglichen. Ebenso wie die PID. Und laut Rau ist das Einschreiten gegen diese Selektion eine Ethik ohne geografische Grenzen. In den Augen der Niederländer ist das deutscher Expansionsdrang aufgrund einer universell verstandenen Moral. Und das gefällt ihnen nicht.

Der deutsche Rechtsstaat sieht sich als eine warme Decke, die ihre Untertanen gegen naive Wünsche auf dem Gebiet von Leben und Tod beschützt. Und am liebsten das Volk im Nachbarland gleich mit. Man kann Menschen niemals genug vor sich selbst und vor einander schützen, meint eine Mehrheit der deutschen Intellektuellen. Ein solcher moralischer Paternalismus verträgt sich nur schwer mit dem Selbstbild der Holländer. Der niederländische Professor Rüter seufzte erschöpft auf, als ein deutscher Moraltheologe überlegte, ob der Mensch überhaupt fähig ist, autonom über seinen Tod, seine Gesundheit oder seinen Nachwuchs zu entscheiden. Denn für Niederländer ist es ein Schreckensbild, diese Entscheidungen den Moraltheologen zu überlassen.

Während in der BRD eine breite Schicht von Interessierten täglich oder wöchentlich mit langen Zeitungsartikeln über die Biotechnologie oder Bioethik ringt, lesen die Niederländer lieber praktische Gesundheitstipps. Kaum einer von ihnen weiß, dass etwas derartig Fundamentales wie ein Embryonenschutzgesetz in ihrem Land vorbereitet wird, ganz zu schweigen vom Inhalt eines solchen Gesetzes. Voraussichtlich nächste Woche wird die erste Kammer des niederländischen Parlaments ein neues Embryonenschutzgesetz verabschieden. Die noch in ihrem Amt befindliche Gesundheitsministerin Els Borst konnte die Parlamentarier davon überzeugen, dass keine Kontroversen zu erwarten sind. Ansonsten hätte das Gesetz erst nach Ernennung der neuen Regierung behandelt werden können. Auch hier werden die Niederlande weitaus freizügigere Regelungen schaffen als die Deutschen.

Nach der jahrelangen Debatte über Sterbebehilfe haben die Niederländer nun offensichtlich wenig Lust auf eine neue ethische Grundsatzdebatte. Aber war die Euthanasiedebatte in den Niederlanden überhaupt so grundsätzlich? Der Kulturhistoriker James Kennedy, eine anerkannte Autorität US-amerikanisch-niederländischer Herkunft, veröffentlichte kürzlich eine Studie mit dem Titel „Een weloverwogen dood“ (Ein wohlerwogener Tod). In der Untersuchung geht es um die gesellschaftlichen Entwicklungen in den Niederlanden, die dem Euthanasiegesetz vorangingen.

Seine Schlussfolgerung: Der Weg zu diesem Gesetz war ganz und gar nicht gesäumt von Grundsatzdebatten, sondern von Konsensstrategien. „Während Euthanasie in anderen Ländern ein explosives Thema ist, bestand in den Niederlanden nie die Gefahr einer gesellschaftlichen Zerreißprobe.“

Kennedy beschreibt den niederländischen Weg als einen gemütlichen Wanderpfad. Amüsiert konstatiert er, mit welch großer Überzeugung man ein Thema wie Euthanasie den Politikern und Ärzten überlässt. „ ‚Das ist schon in guten Händen, das wird schon in Ordnung sein‘, lautete eine weit verbreitete Auffassung über die Euthanasiepolitik. […] Auch wenn niemand mir genau sagen konnte, was die niederländische Euthanasiepolitik so genau beinhaltet.“ Kennedy würde sich auch wundern über die kleinen praktischen Probleme bei der Umsetzung, wodurch sich die Einführung des Gesetzes ständig verzögerte. Zweifellos ist es auch typisch niederländisch, dass niemand sich darüber beklagt. Es geht ja schließlich nur um die Praxis.

In den Augen vieler Deutscher, und dem stimmt James Kennedy zu, ist die niederländische Duldungspolitik in Sachen Leben und Tod geprägt von weit gehender Unkenntnis der Sache. Die Niederländer wissen wiederum sehr gut, wie ihre Angelegenheiten praktisch zu regeln sind. Sie kennen den Weg zum Euthanasiearzt, zur Abtreibungsklinik und sie wissen, wo sie ihren Embryo auf genetische Abweichungen überprüfen lassen können.

Deutschland spielt die Rolle des warnenden NachbarnDie Niederländer haben wenig Lust auf eine neue ethische Grundsatzdebatte

Der Rotterdamer Genetiker Professor Hans Galjaard eröffnete seinen Beitrag auf der deutsch-niederländischen Konferenz in Potsdam mit den Worten „Niederländer sind Kanalgräber“, und diese Metapher war schnell erweitert auf die deutschen „Deichbauer“. Wo Deutsche die Apokalypse befürchten, suchen Niederländer Schleichwege für das immer höher steigende Wasser.

In der Studie von Kennedy wird das Bild der nicht denkenden Nation jedoch wieder relativiert. Über Euthanasie wurde auch in den Niederlanden heftig diskutiert, und zwar bereits vor dreißig Jahren. Um 1970 vertrat der evangelisch-reformierte Theologieethiker P. J. Roscam Abbing die Ansicht, dass nun genug Zeit vergangen sei und ein Unterschied gemacht werden könne zwischen verantwortungsvoller Euthanasie und den Gräueltaten der Nazis. Damit war damals nicht jeder einverstanden.

Beeinflusste nun der niederländische Pragmatismus, wie er bei James Kennedy beschrieben wird, auch die Verteidigungstrategie des niederländischen Teams auf dem Ethikwettkampf in Potsdam? Und ob. Oranjes Strategie bestand darin, schelmisch auf die Praxis hinzuweisen – die niederländische und die deutsche. Auf die Frage, ob es nicht gefährlich sei, per Mehrheitsbeschluss über so prinzipielle Fragen wie Euthanasie und Embryonenuntersuchung zu entscheiden, entgegnete die niederländische Gesundheitsministerin Els Borst: „Die Alternative wäre, dass eine Minderheit für die Mehrheit entscheidet.“ Wenn man Fragen der Biotechnologie prinzipiell den Philosophen überlasse, „lässt man die Menschen im Stich“. Zudem hätten ihr einige deutsche Ärzte gesagt, dass sie selbst Euthanasie angewendet hätten, „mit Hilfe der bekannten Morphinmethode“.

Der Genetiker Galjaard relativierte in seinem Vortrag verschiedene Beispiele deutschen apokalyptischen Denkens. Nur wenige Male hätte die PID zu einem gesunden Kind geführt. Und mit 2,5 Prozent der Sterbefälle seien die Euthanasiezahlen in den Niederlanden bereits seit Jahren gleichbleibend niedrig.

Einige niederländische Konferenzteilnehmer bemerkten auch, dass embryonale Stammzellen in Deutschland zwar heilig sind, demnächst aber dennoch für die Forschung eingeführt werden dürfen. Da konnten sie sich den ein oder anderen morbiden Witz nicht verkneifen. Und, was ist denn so ein Zellklumpen schon? Ministerin Borst: „Wenn man den auf dem Tisch liegen lässt, wird doch kein Mensch daraus.“

Annemieke Hendriks ist freie Journalistin und lebt in Berlin und Amsterdam.