Ein Diktat im Vorzelt

Den Sommer verbringen Sinti und Roma auf dem Stellplatz in Drei Linden. Statt verbeulten Containern soll es hier längst Häuser zum Waschen und für die Schule geben. Franz Lauenberger sitzt vor seinem Wagen und ist ziemlich wütend

von JAN ROSENKRANZ

„Schreiben Sie das. Ein ehemaliger Häftling aus der NS-Zeit sagt, Doppelpunkt, bevor man unseren Toten ein Denkmal setzt, sollte die Stadt mal lieber diesen Platz sanieren.“ Franz Lauenberger ist es gewohnt, dass man tut, was er sagt. Jedenfalls in seiner Familie. Mit 65 Jahren ist er das Oberhaupt. Die Haare zur Glatze geschoren, dichter Schnauzer auf der Oberlippe – ein Mann wie Mario Adorf, ein Sinto mit Leib und Seele, dessen Stimme auch dann noch dröhnt, wenn er leise spricht. Im Moment ist er wütend. „Mit Denkmälern ist doch keinem Lebenden geholfen“, sagt er. Deshalb würde er auch nie auf eine dieser Gedenkveranstaltungen fahren, wie jene am letzten Wochenende am ehemaligen Berliner „Zigeunerlager“. Noch dazu in Marzahn. Im Osten. „Im Osten hasst man uns ‚Zigeuner‘.“

Franz Lauenberger fährt nicht in den Osten. Er nicht. Franz Lauenberger fährt von Westdeutschland nach Westberlin, immer im Sommer, immer mit Wohnwagen und immer samt Familie. Die ganze Verwandtschaft trifft sich hier, um die Zeit von Mai bis Oktober gemeinsam zu verbringen – auf dem offiziellen Stellplatz für durchreisende Sinti und Roma am ehemaligen Grenzkontrollpunkt Drei Linden. Gut ein Dutzend riesige Tabbert-Wohnwagen und Hymermobile mit bunten wetterfesten Vorzelten verlieren sich auf dem 33.000 Quadratmeter großen Asphaltplatz zwischen den Baumreihen. Zur Zeit wohnen etwa 60 Menschen hier. Und weil es noch früh am Morgen ist, rollen nur ein paar Kinder mit ihren Kickboards auf und ab und ein kleines Mädchen düst mit seinem rosa Elektroauto ins elterliche Zeltgestänge.

Franz Lauenberger sitzt in seinem geräumigen Vorzelt, die Polster der Gartenstühlen stecken noch in der Folie, und friemelt mit Minischraubendrehern in einem Kästchen herum. Dann holt er tief Luft, denn er darf sich nicht aufregen, nicht mehr nach drei Herzinfarkten. Darum will er auch nicht von früher sprechen und auch nicht über die Nummer, die in seinen linken Unterarm tätowiert ist. „Ich dachte, sie wollen etwas über den Stellplatz wissen“, sagt er barsch.

Früher standen die Lauenbergers mit ihren langen Gespännen immer am ICC, andere Familien hatten am Zoo oder vor dem Olympiastadion geparkt. Doch es hatte immer wieder Bürgerproteste gegeben. So wurde vor sieben Jahren diese weit abgelegene Fläche, auf der sich einst die Lkws im Grenzverkehr stauten, zum Sommerlager ernannt. Der Senat hatte darauf gedrängt und die Bezirksbürgermeister auch, weil sie den Ärger endlich raus haben wollten aus ihren Bezirken. Hier draußen gibt es weder Wohngebiete noch Einkaufsmöglichkeiten.

„Schreiben Sie: Im Sommer leben wir hier in einer großen Gemeinschaft auf einer beschränkten Quadratmeterfläche“, fordert Lauenberger. Und im Winter? „Jeder Mensch hat ein Zuhause, dass sollten Sie doch wissen“, dröhnt der Alte durchs Vorzelt.

„Über 90 Prozent von uns haben einen festen Wohnsitz“, sagt Petra Rosenberg, die Vorsitzende des Landesverbandes der deutschen Sinti und Roma. Heute würden die „Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft“ viel häufiger umherreisen. Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, das sagt sie oft. Hier ihre Leute und dort die Mehrheit. Es sehe nicht danach aus, als wenn sich daran etwas ändern würde. Im Gegenteil. Zwar bekommt sie für die Beratungsstelle vom Senat jährlich über 60.000 Euro Zuwendungen, aber das reiche nicht und entschädige auch nicht dafür, dass sie sich manchmal behandelt fühlt, als sei sie die Chefin ein kriminellen Vereinigung.

„Seit Jahren fordern wir die Öffnung aller Campingplätze auch für unsere Minderheit“, sagt die Verbandschefin. Stattdessen würden Sinti und Roma dort noch immer unter dem Vorwand „Leider ausgebucht“ abgewiesen. Das sei die gleiche Art von unterschwelliger Diskriminierung, wie sie auch Vermieter pflegen. Erst kürzlich habe sie das wieder zu spüren bekommen, als sie auf der Suche nach neuen Büroräumen war. „Wir sind eine soziale Beratungsstelle“, hat Petra Rosenberg dann gesagt, hat den Zusatz „für Sinti und Roma“ einfach verschwiegen und nach einer Ewigkeit Glück gehabt – in Kreuzberg. Manchmal brauche es eben ein wenig diplomatisches Geschick.

„Schreiben Sie“, fordert Franz Lauenberger: „Die Mauer hat man bis in den schwärzesten Winkel Afrikas gekannt, aber den Holocaust an uns, den will man hier lieber verschweigen.“ Mit dem Minischraubendreher schlägt er den Takt der Silben. Durch das waldige Grün ringsherum dringt das Rauschen der Avus in die morgendliche Ruhe des Platzes. Lauenberger würde lieber Baulärm hören. „Es ist ja schön, dass sich der Senat um diesen Platz bemüht hat“, sagt er, „aber er ist zu teuer und hat nicht die Hygiene, die er haben müsste.“ Über tausend Euro zahle die ganze Familie im Monat, 16 Euro pro Wagen und Tag – im Grunde für nichts. Seit Jahren ist versprochen, der Platz werde ausgebaut. Der Bezirk Zehlendorf hat so lange gemauert, bis der Senat im Sommer 2000 das Bauplanungsverfahren an sich zog.

„Hier haben 50 Jahre lang Lkws gestanden – das hier ist doch alles verseucht. Wenn es regnet, schäumt der ganze Platz“, sagt Lauenberger. Anfang des Jahres hätten die Baumaßnahmen eigentlich beginnen sollen – statt der ollen Sanitärcontainer echte Wasch- und Toilettenhäuschen mit fließendem Wasser und ein zentrales Gebäude für das Büro, die Schule und für Feiern. Doch der Finanzsenator hat das Geld vorerst gestrichen.

„Wir haben so lange gekämpft, wir dürfen jetzt nicht aufgeben, sonst wäre die ganze Arbeit zwecklos gewesen“, sagt Jannis Manoloudakis, gebürtiger Grieche, hochgewachsen, Beamter auf Lebenszeit. Der Senatsbeauftragte für die Sinti und Roma kümmert sich bereits seit vier Jahren um den Sommerplatz und die Belange seiner Bewohner. Er blickt etwas resigniert hinüber zu den Waschcontainern. „Es ist eine Zumutung, dass es hier nur Abwassertanks gibt.“ Es stinke erbärmlich, wenn die geleert werden. Hier müsse dringend etwas geschehen. Zwar koste der Umbau 1,53 Millionen Euro. Der Betrieb würde aber auf Dauer billiger – ohne Containermiete und Abwasserentsorgung ließen sich jährlich über 70.000 Euro sparen. Angeblich sollen die Baukosten in den Haushalt von 2004 eingestellt werden. Aber was heißt das schon.

Im Grunde hat Jannis Manuloudakis zur Zeit ohnehin ganz andere Sorgen: Seine Stelle wurde auf den Überhang gesetzt. Wie viele Stellen, die direkt mit Sinti und Roma befasst sind. All die Dinge, um die sich Manoloudakis immer gekümmert hat, werden auf die verschiedenen Fachleute in der Senatsverwaltung aufgeteilt – und er bekommt eine andere Stelle, es wäre nicht das erste Mal. Aber Manoloudakis sagt: „Ich habe ein emotionales Verhältnis zu den Leuten. Ich bin Südländer.“ Er mag diesen Job, auch wenn es manchmal Ärger gibt. Dann muss er schlichten und im Zweifel auch mit der Polizei drohen. Allerdings liegt der letzte große Krach bereits drei Jahre zurück. Damals waren französische Roma mit 20 Wohnwagen angereist und mit den Sinti aneinander geraten. Man wollte sich gegenseitig vertreiben, und weil der Platz flugs verdreckt war, wollte auch keiner mehr die Gebühren zahlen.

„Roma haben eben einfach eine andere Mentalität. Da kann ja keiner was für“, sagt der Sinto Franz Lauenberger. Im Hintergrund spült seine Tochter Geschirr. Vor dem Wohnwagen schnüffelt ein kleiner brauner Hund. Idylle – aufgeräumt und ordentlich – wie auf jedem anderen Dauercampingplatz auch, nur Blumenrabatte und Gartenzwerg fehlen. Aber so ganz ohne Klischee will Franz Lauenberger einen auch nicht weiterziehen lassen: „Ich will Ihnen was sagen“, sagt der Alte zum Abschied, „ein geklautes Huhn schmeckt einfach hundertmal besser als ein gekauftes.“ Dann lacht er kurz und schraubt weiter.