Friendly Fire in der Kabine

Oliver Kahn, einziger Weltklasseakteur des DFB, übt sich in der Wartezeit auf das entscheidende Spiel gegen Kamerun in einer neuen Rolle: Aus dem Vul-Kahn wird immer mehr der Harmonator

aus Miyazaki FRANK KETTERER

Manchmal muss es eine endlose Qual sein für Oliver Kahn. Da hinten zu stehen, gefangen gehalten in einem Raum von 16 Metern und nur zusehen zu können. Dabei nämlich, wie die Kollegen vor ihm Bälle verlieren und Zweikämpfe, wie sie zurückstecken, erst ein bisschen, dann immer mehr, und wie sie schließlich Fehler an Fehler an Fehler reihen, so lange, bis auch er sie da hinten in seinem Kasten nicht mehr ausbügeln kann. So etwas muss wirklich schlimm sein, und manchmal würde Oliver Kahn dann am liebsten aus seiner Haut fahren. Weil dieses Kunststück aber auch er noch nicht hinkriegt, bleiben Druck und Spannung und Ärger in ihm, und er muss sich ein anderes Ventil suchen. Manchmal, so jedenfalls macht es den Anschein, gelingt ihm das nicht – und dann brodelt und dampft es in Oliver Kahn, und irgendwann bricht er dann auch aus, der Vul-Kahn zwischen den Torpfosten.

Am Mittwoch im Kashima Stadium, beim WM-Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Irland, wollen die Seismographen von der deutschen Presse einen solchen Ausbruch registriert haben, wenn auch nur einen der leichteren Sorte. Kahn habe wieder mal gespuckt, nicht Lava, dafür Gift und Galle, vor Wut und Zorn nämlich über den Ausgleichstreffer der Iren in der Nachspielzeit – und damit getroffen soll der blonde Hüne in erster Linie Oliver Bierhoff haben, den Kahn sich offensichtlich auserkoren hatte als Hauptverantwortlichen für den späten Gegentreffer. Manche Seismographen behaupten gar, eine Wasserflasche sei durch die Mannschaftskabine geflogen.

Zwei Tage später gab es zu dem Ausbruch eigentlich nur noch zwei Dinge anzumerken: Nämlich a.) dass Kahn mit der Person, auf die er seinen Zorn gerichtet hatte, leicht daneben lag (Bierhoff war beim Zustandekommen des 1:1 überhaupt nicht beteiligt). Und b.) dass es nur eine kleine Erruption gewesen sein kann, was daran festzustellen war, dass sie keinerlei Schäden hinterließ. „Dass man sich direkt nach so einem Spiel ärgert, bringt doch die Natur der Sache mit sich“, verfasste Kahn am Freitag höchstpersönlich einen Schadensbericht, der da mit den Worten endete: „Und manchmal fallen dabei Dinge vor, die man am nächsten Tag revidiert.“

Man kann davon ausgehen, dass Kahn ordentlich revidiert hat, so einer ist er nämlich: Kantig und manchmal heftig aufbrausend zwar – aber eben auch einer, der Fehler zugeben kann, auch wenn er das, zumindest was sein Wirken auf dem Fußballplatz anbelangt, nur äußerst selten tun muss. Außerdem kann man gefahrlos alles Geld der Welt darauf setzen, dass Kahn der Letzte wäre, der etwas tun würde, das die Erfolgsaussichten der Mannschaft auch nur im Geringsten schmälern könnte. Und wenn tatsächlich Harmonie das große Plus dieser deutschen Nationalmannschaft sein sollte, wie die DFB-Kicker immer wieder und mehr oder weniger im Chor behaupten, dann wäre Kahn der Erste, der sich für die Rolle als Harmonator hergeben würde – und müsste er dafür revidieren bis zum jüngsten Tag.

Denn Erfolg zu haben, ist das Wichtigste für Kahn, dafür tut er mehr oder weniger seit seinem fünften Lebensjahr, seit er beim Karlsruher SC das erste Mal zwischen den Pfosten stand, alles. Heute ist er der anerkannt beste Torhüter der Welt und Deutschlands einziger wirklicher Weltklassespieler in einer Person und es heißt, geradezu krankhafter Ehrgeiz habe Kahn dazu gemacht. „Es reicht mir nicht, Durchschnittliches zu bringen“, sagt der Mann vom FC Bayern München zwar auch heute noch, ein paar Dinge revidiert hat er dennoch. Mann müsse versuchen, „mehr Gelassenheit zu bekommen“, hat Kahn erkannt, die Dinge gnädiger zu sehen und nicht immer nur verbissen. Ehrgeiz kann einen auch auffressen, und ein bisschen war Oliver Kahn an diesem Punkt angelangt. Vor drei Jahren war das der Fall, als Bayern München und somit er das Champions-League-Finale verloren hatten, gegen Manchester und in allerletzter Minute. „Da war ich psychisch und auch körperlich an einer Endstation angelangt“, hat Kahn kürzlich in einem Interview verraten und seine Situation von damals selbst als „totale Demotivation“ bezeichnet. „Wer das erlebt“, so Kahn, „lebt völlig anders, von jetzt auf nachher.“

Bei Oliver Kahn kann man das sogar sehen. Er hat sich der Mode entsprechend Koteletten stehen und einen neuen Haarschnitt verpassen lassen, mit Gel und so, und dazu trägt er seit einiger Zeit modische Klamotten und sieht alles in allem richtig trendy aus., So trendy, dass ihm die Teenies von Bravo ihren Sport-Otto vermacht haben. Und öfter lächeln sieht man Kahn jetzt auch, und dazu sagt er Sätze wie: „Man muss auch mal abspannen können.“ Beides war früher eher nicht so sein Ding.

Damit kein falsches Bild entsteht: Der 32-Jährige ist immer noch heiß wie kaum ein anderer, sonst hätte er am Mittwoch ja nicht wieder zu brodeln begonnen. Aber er kann sie jetzt besser kanalisieren, diese Gefühlslava, die während eines Spiels durch seine Adern rinnt. „Wir müssen jetzt eine gute Mischung finden zwischen Konzentration und Lockerheit“, hat Familienvater Kahn gestern als Vorschau auf das entscheidende Gruppenspiel am Dienstag gegen Kamerun gesagt. Es klang wie eine Lebensweisheit, die Kahn auch für sich selbst erst entdecken musste.