Es geht um Kontrolle

Der rot-grüne Gesetzentwurf über Volksentscheide ist gescheitert. Seine Gegner – allen voran die Unionsfraktion – haben ihre Machtpositionen erfolgreich abgesichert

Weimar scheiterte nicht an Plebisziten, sondern an einerparlamentarisch- politischen Krise

Bert Brecht zitierte die Weimarer Verfassung: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Um sofort seine Frage anzuschließen: „Aber wo geht sie hin?“ Wohin die Reise der Staatsgewalt im Staat der Bourgeoisie gehen würde, war für den Kommunisten Brecht klar. Und auch das Ziel der Rückreise stand fest: Die staatliche sollte sich in gesellschaftliche Macht verwandeln. Direkt und unteilbar ausgeübt in der Form der Sowjets.

Der Lösungsversuch endete in einem Desaster. Aber Brechts Frage bleibt. Von der Mehrheit der Wissenschaftler wie vom Gros der konservativen Politiker wird heute die Antwort erteilt, die repräsentative Demokratie sei der sichere Hafen, in dem die Staatsgewalt nach der Irrfahrt durch die totalitären Systeme des letzten Jahrhunderts gelandet sei. Sie sei die schon lang vorhandene, aber von den Deutschen endlich gefundene Form, in der der Volkswille gültig zum Ausdruck komme. Eine Ergänzung, gar eine Relativierung des Prinzips der Repräsentation durch Elemente der direkten Demokatie sei nicht nur kontraproduktiv, sondern auch gefährlich. Sie delegitimiere das Parlament als aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene demokratische Institution. Und sie vereinfache komplexe Sachverhalte, die nur auf dem Weg des Aushandelns und Kompromisses einer vernünftigen Regelung zugeführt werden könnten, zu simplen und daher unangemessenen Ja-nein-Entscheidungen.

Die Befürworter von Volksentscheiden, die gestern kraft der rot-grünen Volksentscheid-Vorlage ihre große Stunde hatten, sehen die Sache natürlich anders. Der Volksentscheid ersetzt für sie nicht die repräsentative (und föderal verfasste) Demokratie. Er kann vielmehr zu einem Instrument des Einspruchs und der Korrektur werden. Er soll die Möglichkeit der Bürgermitwirkung am demokratischen Prozess erweitern, der Ohnmacht gegenüber Entscheidungen der etablierten Politik entgegenwirken und damit die demokratischen Institutionen stärken.

Diese Argumentation ist stichhaltig. Sie kann zum Ersten nicht mit dem Hinweis darauf ausgehebelt werden, die Autoren des Grundgesetzes hätten 1948/49 wohlweislich Volksentscheide auf Bundesebene (mit Ausnahme der Neugliederung von Bundesländern) ausgeschlossen, weil sie die Lehren aus dem plebiszitären Charakter der Weimarer Verfassung gezogen hätten. Bekanntlich scheiterte Weimar aber nicht an den wenigen (erfolglosen) Plebisziten, sondern an einer tief gehenden erst ökonomischen, dann politisch-parlamentarischen Krise, die ihre letzte Ursache in der nur halbherzigen Überwindung des Obrigkeitsstaats und der mit ihm verbundenen Ideologie gehabt hatte.

Zu Unrecht wird von den Gegnern des Volksentscheids auch das (fehlgeschlagene) Plebiszit gegen den Young-Plan, d. h. die Streckung und Minderung der deutschen Reparationszahlungen, herangezogen. Es wird argumentiert, erst eine rechtskonservative, emotionalisierte Medienkampagne habe der Nazipartei zum Durchbruch verholfen. Wieso aber sollte diese Kampagne an die Form der Volksabstimmung gebunden gewesen sein? Und lehrt nicht die jüngste italienische Erfahrung, dass politische Kampagnen übermächtiger rechter Medien sich sehr wohl im System der repräsentativen Demokratie durchsetzen können?

Zweitens erweist sich auch das Argument als untauglich, Volksentscheide könnten niemals der Komplexität politischer Sachentscheidungen gerecht werden. Die politischen Parteien, die das parlamentarische System am Laufen halten, unterliegen sämtlich der Tendenz zur Selbststabilisierung, zur Abschottung von einer ihnen „fremden“ Öffentlichkeit. Sie tun sich immer schwerer damit, rechtzeitig veränderte Problemlagen wahrzunehmen. Ihre „Responsivität“, wie es Systemtheoretiker nennen, sinkt. Gerade die Anhänger der Systemtheorie, die von der notwendigen Schließung eines Systems gegenüber dem anderen ausgehen, rufen nach Störung, nach dem Import systemfremder Elemente. In diesem Zusammenhang ist die Forderung nach Zusatzeinrichtungen instruktiv, wobei in erster Linie Anhörungsverfahren, runde Tische und Ähnliches gemeint sind.

Warum sollte aber, was für Einzelforderungen möglich ist, nicht auch für allgemeine politische Willensäußerungen gelten? Für viele Politiker und Wissenschaftler scheint es ein Glaubenssatz zu sein, dass gesellschaftliche Initiativen nur in der Lage sind, partikulare Ziele, single purpose actions, zu formulieren und durchzusetzen. Die Geschichte der Bundesrepublik kennt zwei schlagende Gegenbeispiele: die Anti-AKW-Bewegung und die Bewegung gegen die Raketenstationierung. Beide Bewegungen brachten – auch ohne Parteienmediatisierung – eine komplexe und dabei zielgerichtete Politik hervor. Volksabstimmungen und der mit ihnen verbundene Prozess einer langwierigen öffentlichen Debatte hätten die Öffnungs- und Lernprozesse der Parteien eher befördert als behindert.

Im Kern geht es den Gegnern von Volksentscheiden um Kontrolle. Sie möchten, möglichst im Zusammenspiel mit den Medien, sich vorbehalten, welche Fragen wie gestellt werden. Sie wollen die Agenda beherrschen, denn dann sind sie auch Herr über die Antworten. Die Rede von der Unterkomplexität der Ja-nein-Entscheidungen bei Plebisziten verdeckt nur den Monopolanspruch, selbst zu entscheiden, wie Komplexität reduziert werden muss. Dieser Herrschaftsanspruch paart sich mit einem stets wachen Misstrauen, das Volk schrecke vor Schwierigkeiten zurück, neige brachialen, im Zweifel autoritären Lösungen zu. Und in den Abstimmungen trete zutage, was sich an Finsterem in der Volksseele verberge.

Viele Politikerglauben, gesellschaftliche Initiativen könnten nur partikulare Ziele formulieren

Gewiss gibt es geschichtliche Situationen, die angesichts ungelöster gesellschaftlicher/politischer Probleme Ausbrüche der Massenhysterie begünstigen. Vielfach wird hier auf die „Angst vor der Ausländerflut“ verwiesen. Solche Ängste gab und gibt es, aber sie brechen nicht eruptiv über die parlamentarisch-repräsentative Demokratie herein, sondern sind „aus der Mitte“, von repräsentativ gewählten politischen Eliten planmäßig erzeugt worden. Das beweist die Geschichte der Abschaffung des garantierten Grundrechts auf Asyl, bekanntlich kein Resultat einer Volksabstimmung.

Der Gesetzentwurf der rot-grünen Koalition ist abgewogen, vorsichtig und argumentativ abgesichert. Dennoch ist er am Widerstand der Union gescheitert. Trotz dieses schnellen Endes war es richtig, ihn im Vorfeld der Wahlen zu präsentieren. Er reißt ein Problem auf. Nur wenige politische Entscheidungen von großer Tragweite in den vergangenen vier Jahren waren Gegenstand des Wahlkampfs von 1998. Diese Unvorhersehbarkeit wie auch das Diktat des Zeitdrucks gehören zum politischen Geschäft. Aber gerade weil das so ist, könnten Volksabstimmungen, die eine Grundlinie des politischen Handelns bestimmen, zur Quelle für Legitimation werden. Und diese Legitimation wird immer mehr zur knappen Ware. CHRISTIAN SEMLER