montagsmaler
: Gesellschaftliche Zuschreibungen sind wie Melodien – sie verschwinden nicht

Kerze der Geschichte

Geschichte lässt sich nicht abstreifen. Nicht wirklich. Dabei ließ sich dieses Wochenende erst mal gut an, trotz Regen. Nicht überlegen müssen, wie das Sonnenwetter sinnvoll zu nutzen sei, sondern einfach den Nachmittag auf dem Sofa rumgammeln, Disneyfilme gucken und Kekse essen. Ab und zu vor dem Fenster die Wellenbewegungen des Windes in den Blättern am Mauerwerk betrachten. Wir hatten vor, den Geburtstag des in einigen Stunden anreisenden Vaters der Kinder nachzufeiern und waren dabei, eine ganze Reihe dieser grellbunten Minikerzen auf unserem Kuchengebilde zu befestigen.

Den Vormittag hatte ich mit „Hellblau“ verbracht, Thomas Meineckes 2001 erschienene Spurensuche gesellschaftspsychologischer Sprachphänomene, die auf abwertende Kategorisierungen wie „Jude“ oder „Neger“ zurückgehen. So lässt er die Eltern eines seiner Protagonisten John Zorn auflegen und stellt fest, dass „deren vorgeblicher Philosemitismus sich tatsächlich ganz auf musikalische Manifestationen aus New York beschränkt“. An anderer Stelle findet sich der Hinweis, dass im Wien Sigmund Freuds die Klitoris umgangssprachlich als „Jude“ bezeichnet wurde: die Klitoris als Sinnbild für die Unmännlichkeit des Juden, der beschnitten sei – gleichsam kastriert. Weibliches Masturbieren hieß dann „mit dem Juden spielen.“

Diese Betrachtungen im Kopf war ich Einkaufen gegangen. Der sicherste Weg zu einem gelungenen Kuchen erschien mir eine bereits getestete Backmischung, Kerzen gab es in der Drogerie. Vor dem Regal fiel mir ein Karton mit der Aufschrift „Musikkerze“ auf. Beim Anzünden würde die Kerze, ausgelöst durch einen Wärmeimpuls, die Melodie von „Happy Birthday“ spielen. Das Produkt war mehrfach patentiert und von Taiwan aus in dieses Drogerieregal gelangt. Kurzerhand wechselte der kleine Karton in meinen Besitz über.

Abends, wir hatten alles auf emotionale Wirksamkeit hin inszeniert und unsere Liedversion dargebracht, kam die Kerze zum Einsatz. Noch vor dem Anzünden fing sie an, steigerte sich dann brennend und hörte nicht auf, nachdem wir sie in 20-facher Wiederholung auspusteten. Wir hielten sie aus dem Fenster, unter kaltes Wasser, sie hörte nicht auf. Schließlich landete sie im Kühlschrank und von da aus weiter im Tiefkühlfach. Durch die gummierte Kunststofftür hörten wir die gedämpfte Melodie, die nach ein paar Minuten tatsächlich verstummte. Sofort rissen die Kinder die Tür wieder auf. Eine Kältewelle legte sich auf unsere Gesichter. Auf der Frostschicht, die sich über die Jahre angesammelt hat und in der einige Erbsen und auch eine Packung vergessener Fischstäbchen im ewigen Eis liegen, stand unschuldig die kleine rosa Kerze.

Auf der Packung waren Engel abgebildet. Zu Recht! Wie schön stand sie da, wie still. Ein Moment zum Festhalten. Irgendwann werden wir in Erklärungsnot geraten. Was es heißt, deutsch zu sein. Doch dann setzte die übliche Verdrängung wieder ein und auch die Kerze, ermutigt durch die geöffnete Tür, fing wieder an: „Happy Birthday“. MAXI SICKERT