Fäden der Empfindung

Die Woche der schönen Wahrheiten (1) Heute: Quecksilberlicht und prangende Grüntöne

Gelassenen Schrittes zogen sie die Anhöhe hinan; und glücklich waren sie alle, hier zu sein: Wo das Licht auf den rauschenden Blätterfluten schäumt und von ferne über die Kuppe des Hügelchens schon die Kirche von Hochstahl gelassen herschaut und ihre Spitze dem Himmel zeigt, der heute so wolkenlos und meerblau ist wie lange nicht, es sei denn in träumerischer Erinnerung. Unter den Sohlen knirscht der Kies; am Wegrand strüppen sich im Quecksilberlicht des Frühlingstages Himbeeren der Blüte entgegen; verfilzte Ranken, doch bescheiden, wie es sich in der Vielfalt prangender Grüntöne ziemt; weiter drinnen in der Halle des Waldes ragen die bleichen Stiele der Pestwurz aus dem samtigen Nadelvlies. Die Morchel sucht das Auge noch vergebens, doch wäre das zu viel des Guten.

Einer geht voraus, der Durst treibt seinen Schritt, gesagt ist so weit alles; so lässt man ihn entfliehen, wählt sodann aber den Weg übers Feld, an rankenden Kartoffelstauden entlang. Ein fröhlicher Gruß gilt der Bäuerin auf dem stummen Traktor, mit etwas verlegener Morgenfreude wird er erwidert, dann flaniert man durch einen Hof, vorbei an Hund- und Menschgehäus der Straße zu. Erstaunt lächelt der Eingeholte, dort winken schon die Sonnenschirme der Brauerei Reichold. Hier wächst nun nichts mehr, Asphalt säubert das Wilde hinaus an den Ortsrand und hinauf in die Blumenkästen, die vor den Fensterchen mit den schiefen Kreuzen prangen, aus dessen einem der milde, lebensweise Blick einer alten Bäuerin den Ankömmlingen gilt.

Man setzt sich nieder und bestellt; noch ist die Sonne nicht zum Mittag gestiegen, und Ruhe schwebt über der Straße, nur dann und wann durchrauscht von vereinzelten Automobilen, die unbekannten Zielen entgegeneilen, einem Traktor auch, auf dessen Anhänger, einem altmodischen Heuwender, die Mutter der Fahrerin thront, gekrümmt wie ein gestolpertes Fragezeichen. Mehrmals kreuzt das Paar den Blick unserer kleinen Reisegesellschaft, deren Amüsement darob mit steigender Zeche ebenfalls wächst. Man bestellt dunkles Bier aus hauseigenem Bräu, frisch gerührten Ziebeleskäs und endlich auch Würste mit Kraut, um, wie man sagt, eine Grundlage zu schaffen für das erdbraune, kellerkühle Gebräu, dem die Aufmerksamkeit vor allem gilt, heißt es doch nach fachlicher Einschätzung des Reiseleiters nicht umsonst eines der besten der Gegend und überhaupt seiner Art.

So sitzt man da und schwätzt, während die Stunden den Bach der Zeit hinabtröpfeln, und mit jedem Glas werden die Gesichter wie die Reden lebendiger, und schon schlüpft auch so manches Schmähwort in die Ausführungen hinein, wenn es den gemeinsamen Beruf der drei Herren angeht: Es müsse doch nun bald ein Ende haben nicht nur mit der Dummheit der Redakteure, wie sie allesamt in ihren Stuben kümmern; es müsse weiterhin doch endlich auch vorbeigehen mit der Witzelei, die sich ins Schreiben der vielen Kollegen hineingeschlichen habe wie ein böser Pilz und nun schon lange nicht mehr erträglich und schon gar nicht dienlich sei dem Zwecke der Aufklärung und Weltdarstellung. Die Dame lächelt in freundlicher Zustimmung, und bald ist ein Plan herangereift, wie dem Treiben zu begegnen sei. Nichts nütze es, wenn man weiter schimpfe und sich echauffiere über jene, die doch auch nichts anderes tun als schimpfen und sich echauffieren, als hätte man ihnen Pfeffer in den Sessel gerieben, weil man solcherart doch letztlich nur den Schlimmsten – namentlich genannt wird ein Herr Süßhasell – sich angleiche, was doch Klumpsakrament! in jedem Fall zu vermeiden sei.

Und wie die Blicke in einer Pause der Stille so schweifen und von ferne den Hain am Ortsrand fangen, der Traktor mit Mutter und Tochter wieder einmal vorbeischeppert über die von linden Windstößen durchflogene Straße, und wie sich die Schau der Zeit entzieht und, gekitzelt von Fetzen einer Melodie, die aus dem Wirthaus nach draußen weht, hinabsinkt ins Vergessene, doch immer Gegenwärtige, da ist’s ihnen mit einem Mal, als ob sie den Platz als verlassenen Ort sähen, abgelegen vielleicht im Damaligen oder in einer fernen Zukunft, da nichts geschah und war, der letzte Seufzer verhallt, das Wirtshaus leer stand, die Zäune und Mauern sich verfallen streckten, wucherndes Graugrün die Böschungen erklommen hatte und von den Hallen und Kellern des Bräus nur noch bleichende, sandig bröckelnde Mauern übrig waren, versunken im vagen Erinnern, das weit von hier verscholl.

Und da atmeten sie auf, fingen die Fäden der Empfindung und wussten nun, was zu tun war, sobald sie wieder zu Haus in ihren Kammern am Schreibtisch säßen: eine Idylle musste es sein, nein, nicht eine, eine ganze Serie von Idyllen musste geschaffen werden, um das Wort vor dem gangränen Fraß des Halbhumors zu retten. So zogen sie unter dem bläuenden Mantel der Dämmerung wieder hinab ins Tal und dem stillen Sonnenhof entgegen, von wo sie ein paar kurze Tage später wieder in ihre verstreuten Heimatorte aufbrachen, die Reisenden, die die Idylle gefunden hatten, ohne sie zu suchen, und welchselbigen erster seine Schuldigkeit ihrer Rückführung ins Denken und Begreifen hiermit nun in Bescheidenheit erfüllt zu haben glaubt. MICHAEL SAILER