LITAUEN: AUS FÜR DAS AKW IGNALINA IST EINE CHANCE ZUM NEUBEGINN
: Ausweg alternative Energie

Was Polen seine Landwirtschaft und Lettland die Rechtsstellung der russischen Bevölkerungsgruppe, ist für Litauen das AKW Ignalina: der größte Stolperstein auf dem Weg in die EU. Nach handfestem Druck vor allem seitens der nordischen EU-Mitgliedsländer hat die Regierung in Wilnius nun angekündigt, dass sie dieses Hindernis wegräumen will. Aber umsonst wird die EU die Stilllegung des Westeuropa geografisch gesehen nächstliegenden der verbliebenen Reaktoren vom Tschernobyl-Typ nicht bekommen. Zehnmal mehr als bislang von Brüssel ins Gespräch gebracht will Litauen sich das Abschalten seines Goldesels kosten lassen.

Die Rechnung macht durchaus Sinn. In den vergangenen Jahren musste Wilnius hunderte Millionen Euro für „Sicherheitsinvestitionen“ für Ignalina zahlen. Gleichzeitig hat sich die litauische Volkswirtschaft an billigen Strom gewöhnt. Ihr und der Bevölkerung des kleinen Staates steht nun – nach der Einführung der Marktwirtschaft vor zwölf Jahren – die zweite kalte Dusche bevor: die Anpassung an normale europäische Strompreise.

Das hätte Litauen billiger haben können, etwa wenn die Regierung früher auf die Kritik der Antiatombewegung gehört hätte. Oder wenn Brüssel viel früher die Schließung von Ignalina gefordert hätte. Jetzt aber muss Litauen binnen wenigen Jahren fast seine gesamte Energieversorgung umstellen – ein fast undurchführbares Unterfangen. Aber die Schließlung von Ignalina ist auch eine Chance, denn jetzt kann die EU zeigen, dass sie es ernst meint mit einer anderen Energiepolitik. Brüssel muss Litauen beispielhaft unter die Arme greifen und die Milliarden für ein primär auf alternative Energiequellen gestütztes System investieren.

Es ist dringend Zeit, dass die EU Litauen hilft. Schon verbreitet sich dort die Meinung, Europa habe Litauens AKW nur auf die Abschussliste gesetzt, damit ihre eigene Energiewirtschaft den Markt übernehmen kann. Und in Schweden hat die Atomlobby das Ignalina-Aus bereits als Argument für ein Aussetzen des dortigen Atomkraftausstiegs entdeckt – weil man ja bald Atomstromexport über die Ostsee exportieren könne. REINHARD WOLFF