Berlin ist nicht London

Warum blieb die Vision von der Weltstadt in Berlin immer eine Fata Morgana? Die Ausstellung „Fifty:Fifty“ in der Berlinischen Galerie beschäftigt sich mit der gebauten und der nicht gebauten Architektur in Berlin zwischen den Jahren 1990 und 2000

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Ungebrauchte Ideen landen oft im Müll und manchmal auch in den Schubladen der Architekturbüros. Dort ist die Architekturabteilung der Berlinischen Galerie auf die Suche gegangen für ihre Ausstellung „Fifty:Fifty“, die gebaute Projekte nach 1990 und Entwurf gebliebene einander gegenüberstellt. Denn das „Fantasievolle und Wagemutige“, meint die Kuratorin Eva-Maria Amberger, kollidiere in Berlin nur zu oft mit der Angst der baupolitischen „Entscheidungsträger vor einer aussagekräftigen Architektur“.

Als eine Chronik der Enttäuschung beschreibt Manfred Sack im Katalogtext „Die domestizierte Fantasie“ den Prozess der letzten zehn Jahre, dominiert von einer Geschäftshausarchitektur, für die die sichere Geldanlage als oberstes Kriterium galt. Darum macht die Ausstellung dann doch einen Bogen und zeigt die Ausnahmen von der Regel.

Da stößt man gleich im Eingang auf die Jüdische Grundschule von Zvi Hecker, die schon im Modell von einer großen Lust am Spiel lebt: Man möchte ihre einzelnen Elemente gleich in Bewegung versetzen. Die Schule ist in Baukörper gegliedert, die wie die Blätter einer Blüte um ein Zentrum rotieren. Man trifft auf das „Krematorium Baumschulenweg“ von Axel Schultes und Charlotte Frank, den Architekten des Bundeskanzleramtes. In Treptow haben sie mit einem Wald aus Säulen und Licht einen Ort des Übergangs geschaffen, der mythischen Vorstellungen vom Tod eine Bühne öffnet und dennoch betonhart die Architektursprache der Gegenwart benutzt. Das Krematorium hat sich zu einer Pilgerstätte für Fachtouristen entwickelt. Natürlich fehlt auch das Jüdische Museum von Daniel Libeskind nicht.

Neben diesen prominenten Bauaufgaben tauchen auch Projekte an der Peripherie auf. An die Kubaturen der klassischen Moderne erinnert ein Wohnhaus von David Chipperfield in Dahlem, das noch einmal die großzügige Beruhigung von Flächen mit handgefertigten, lebendigen Materialien verbindet: Was früher als spröde Reduktion galt, ist inzwischen zwar ästhetischer Konsens, dafür aber fast unbezahlbar geworden. An die Zwanzigerjahre und den Expressionismus in der Industriearchitektur aus rotem Backstein knüpft mit gezackter Fassade und getreppten Traufgesimsen ein Wohnhaus des Büros Krüger Schubert Vandreike an, das in einer der größten Neustädte, in der „Wasserstadt Spandau“ entstand.

Doch so vielfältig hinsichtlich der ästhetischen Sprachen dieser Katalog der Juwelen unter den Neubauten Berlins auch ist, ein stadtbildprägendes Bild kann er nicht vermitteln. Ein stadtplanerischer Zugriff, der den neuen Qualitäten und Bedürfnissen des Urbanen gerecht würde, ist allen Masterplänen zum Trotz bis heute ausgeblieben.

Auch auf der Seite dessen, was Entwurf blieb, scheint dafür der Mut gefehlt zu haben. Wieder entzündet sich die planerische Energie an den solistischen Aufgaben. Ein Überschuss an Symbolischem und konstruktiv Spektakulärem zeichnet die nicht gebauten Entwürfe vor den gebauten aus. Oft haben sie auch einfach den ästhetischen Vorsprung, noch nicht durch den Filter technischer und ökonomischer Machbarkeit gegangen zu sein; sie durften Kunst bleiben.

Statt im Büro der Planer glaubt man sich plötzlich unter den Ausstattern des fantastischen Films. Märchenhaft übersteigert wirken zum Beispiel die aufbrechenden Schalen, mit denen Gottfried Böhm, der Älteste unter den beteiligten Architekten, 1987/88 die wiederaufzubauende Kuppel des Reichstags umgeben wollte: als ob ein Dinosaurierei platze, ein Fossil aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückkehre.

Berlin ist nicht London, eindeutig nicht. Dort baute Richard Rogers für die Lloyds Bank einen Hightechturm, der die meist im Inneren verborgene Haustechnik als kühles, gestaltendes Element benutzt. Für das „Zoofenster“ zwischen Bahnhof und Wittenbergplatz legte er einen ähnlichen Entwurf vor, neben dem sich die gebauten Hochhäuser dort wieder als sehr kompromisslerische Lösungen ausnehmen. Rogers spitzer, von einer Antenne überhöhter Turm hätte Hightecharchitektur als Schauspiel aufgeführt. Das gilt in Berlin als städtebaulich unverträglich. Auf den Spuren von Mies van der Rohe, der 1921 ein Hochhaus aus Glas und mit sichtbarem Skelett für das Spreedreieck nahe dem Bahnhof Friedrichstraße entworfen hatte, bewegten sich 2000 Peter Eisenman, Chipperfield und weitere Architekten in einem privat ausgeschriebenen Wettbewerb. In der Zuspitzung des Turms und einer schraubenähnlichen Drehung der Fassaden variieren sie die alte Vision und treiben sie weiter – und dennoch wirkt es wie eine Kapitulation, dass sie nach fast einem Jahrhundert auf das alte Bild zurückgreifen.

Die Ausstellung „Fifty:Fifty“, mit der die Berlinische Galerie wieder im Kunstforum der Grundkreditbank zu Gast ist, bereitet ihr Thema nicht nur für den Architekturfachmann auf wie die meisten architekturbezogenen Ausstellungen. Man nimmt Tipps für Trips an den Standtrand mit und profitiert von den unterschiedlichen Mitteln der Darstellung. So wird der Wandel der Stadt fassbar und zugleich seine Begrenzung. Sie stiftet an zu unbescheidenen Fragen. Warum blieb die Vision von der Weltstadt in Berlin immer eine Fata Morgana?

Dienstag bis Sonntag, 10 bis 18 Uhr, Budapester Str. 35, Katalog 15 €