Das Blaufieber grassiert

Die Erfolge der Nationalelf setzen verborgene Emotionen frei. Bei den japanischen Fans rinnen die Tränen. Die Siegesfeiern fallen so ausgelassen aus, dass die Gastgeber selbst überrascht sind

Zum ersten Mal empfanden nicht die Besucher Nippons einen Kulturschock

aus Yokohama MARTIN HÄGELE

Gleich nach dem Schlusspfiff im Yokohama-Stadion hat sich Masazumi Ando vor seinen Computer gesetzt, um seine Freude mit seinen Freunden zu teilen. Masazumi hat in Deutschland studiert und übersetzt für diverse japanische Sportzeitschriften die Texte von Korrespondenten aus Europa in Kanji-Schriftzeichen. Seine E-Mail aber wurde nicht länger als ein kurzer Satz mit vielen Ausrufezeichen: „Ein historischer Sieg!!!!!“ Es fiel ihm nichts mehr ein, weil er immer wieder heulen musste. Ein paar Minuten zuvor noch hatte der junge Takashi, mit 32 Jahren schon Stellvertretender Chefredakteur von Soccer Digest, Japans größtem Fußball-Magazin, die Absicht gehabt, die Story seines Lebens zu schreiben. Aber dann merkte er, wie der Bildschirm des kleinen Laptops vor seinen Augen zu schwimmen begann und das Weinen nicht mehr aufhören wollte.

Historisch, historisch und noch tausendmal historisch war die Lieblingsvokabel, die sich in allen Zeitungen der riesigen Inselkette am Morgen danach verbreitete. Alle Nachrichtensen- dungen in Radio und Fernsehen begannen mit diesem Wort, aber auch mit Bildern, wie sie Nippon noch nie gesehen hatte. In Osaka sprangen 130 Menschen vor Begeisterung in einen Fluss und wurden von Feuerwehrmännern wieder ans Ufer gezogen. In Shinjuku und Shibuya, den Stadtteilen der Yuppies und Modefreaks, tanzten zehntausende auf den Straßen. Der erste WM-Sieg einer japanischen Fußball-Auswahl hat das ganze Land für Stunden in Trance versetzt.

Irgendwann am Montagmorgen sind sie aufgewacht – und der nationale Rausch über das 1:0 gegen Russland war immer noch nicht ausgeschlafen. Aber viele Japaner sind dann doch erschrocken – über sich selbst: Dass sie einem Gaj-jin, einem Ausländer also, den Blick in ihre Gefühlswelt preisgegeben haben, indem sie von ihren Tränen erzählten. Dass einander unzählige wildfremde Menschen in den Armen lagen, wo sie doch für ihre distanzierte Etikette und körperliche Berührungsängste berühmt sind. Diese Emotionen hatten nichts mehr mit ihrer Mentalität zu tun. Zum ersten Mal empfanden nicht die Besucher Nippons einen Kulturschock, jetzt kam der Impuls von innen. Und sie selbst hatten ihn ausgelöst.

Das blaue Fieber. Ein Land entdeckt seinen Patriotismus in einem neuen Sport. Vor zehn Jahren hat Franz Beckenbauer, den der Mitsubishi-Konzern nicht nur als Werbefigur für Autos made in Japan, sondern auch als Berater ihrer neu gegründeten Profi-Liga engagiert hatten, in dem ihm eigenen Sarkasmus gelästert: „Was willst in Tokio mit Fußball, da ist’s im Stadion so ruhig wie sonst nur auf dem Friedhof in der Kirche.“ Am Sonntagabend hatten sich im Tokioter Olympiastadion über 50.000 Menschen versammelt. Obwohl nicht auf dem Rasen, sondern nur auf der Videowand gekickt wurde. Auf dem Schwarzmarkt zahlten die Leute 15.000 Yen (140 Euro) für dieses Erlebnis. Sie feuerten ihre „blue army“ an, sie machten la Ola, noch lange nach dem Schlusspfiff tanzten sie. Ähnliche Szenen spielten sich auch in anderen Arenen und Sporthallen im ganzen Land ab. Selbst im Osaka Dome, wo normalerweise Baseball gespielt wird, feierten 20.000 Inamoto, den Torschützen, und alle anderen Nationalhelden.

Dass der Fußball die Verhaltensregeln einer ganzen Nation plötzlich auf den Kopf stellt, hat mit dem Bedürfnis vieler Japaner zu tun, anders zu sein. Deshalb sind sie auch so anfällig für den Kult mit Stars. Und die J-League besaß das Glück, dass sie gleich nach ihrem Start 1993 einen solchen Prototypen liefern konnte: Kazu Miura. Der wollte nicht sein Leben lang nur gehorchen und arbeiten, Kopfnicken und noch mehr Überstunden, um irgendwann mal Banker oder Manager zu sein. Kazu wollte kein tüchtiger Japaner in einem dunklen Anzug werden, sondern Fußballprofi. Und das schaffte er, indem er mit 15 Jahren nach Rio flog und beim Pelé-Klub Santos eine Lehre absolvierte.

1992 wurde Kazu „Asiens Fußballer des Jahres“. Doch zum Idol wurde er durch sein Auftreten. Kazu machte vor keinem Schiedsrichter oder Funktionär den Buckel krumm. Er verneigte sich auch nicht höflich vor einem Gegner. Kazu provozierte, fühlte sich als Individualist und verteidigte seine Freiheit. Das alte Japan hingegen funktioniert nach den überlieferten Samurai-Regeln. Gehorsam ist das oberste Gebot

Kazu schießt immer noch Tore in der J-League. Mit bald 36 Jahren. Doch als Superstar ist er schon lange von Nakata abgelöst worden. Es kann sein, dass sich das Foto von Hidetoshi Nakata gleichzeitig als Cover auf fünfzehn Fußball- und Sportzeitschriften befindet. Für den 25-Jährigen sind schon hunderte von Reporten und zehntausende Anhänger nach Italien geflogen – einzig um den populärsten Kicker Japans spielen oder auch nur auf der Ersatzbank zu sehen. In Perugia wurde Nakata zum Star; AS Rom sicherte er 2001 als Joker den Meistertitel, danach war der Spielmacher und Torjäger Parma 30 Millionen Euro wert. In der Rangliste der Topverdiener liegen nur noch Zinedine Zidane und Ronaldo vor ihm. Japans Medienliebling wird auf zehn Millionen Dollar pro Jahr geschätzt.

Natürlich kann die Kultfigur mit den rotblond gefärbten Haaren gar nicht jene Koryphäe sein, die ihm die Schwindel erregenden Zahlen auf seinem Konto vorspielen. Für seine Landsleute aber spielt er im Zirkel der absolut Besten.

Der Boom um die „blue army“ lässt sich auch am Verkauf der Trikots messen. Schon jetzt gilt als sicher, dass Hersteller Adidas mit den blauen Hemden einen neuen Weltrekord für Nationaltrikots aufstellen wird: über eine Million. Doch selbst beim Erwerb des dazu nötigen Outfits zeigt sich, wie fixiert die Kundschaft auf Stars ist. War ursprünglich Nakatas Namen auf dem Rücken der Shirts erste Wahl, so kommen die Händler nun nicht mehr nach mit der Beflockung von Inamoto-Hemden. Der Mittelfeldspieler von Arsenal London hatte sein Land erst zum historischen Remis gegen Belgien und dann zum historischen Sieg über Russland geschossen. Und vielleicht ist damit im Land der aufgehenden Sonne nicht nur eine rote Kugel, sondern tatsächlich ein Fußball aufgegangen.