In 800 Songs um die Welt

Mit Robert Scott und Graeme Jefferies gastieren gleich zwei Hohe Priester neuseeländischer Musik in Hamburg und lehren uns die unterschiedlichen Schattierungen antipodischen Pop

Neblige Technikverliebtheit und schmerzhaft-schöne Melodien

von GREGOR KESSLER

Robert Scott hat ein dickes Buch zu Hause. Darin notiert er alle Songs, die er schreibt. Alle Akkordfolgen, alle Texte, alle Titel. Anfang der 90er Jahre, zehn Jahre, nachdem Robert Scott seine ersten zarten Weisen in das Buch eingetragen hatte, zählte es etwa 800 Eintragungen. So jedenfalls erzählte er es der neuseeländischen Tageszeitung Otago Daily Times. Manche Leser hielten ihn für einen Aufschneider. Doch das müssen Menschen gewesen sein, die den kleinen Mann mit der hellen Stimme nicht kennen. Denn Scott schreibt so schnell einen Song, wie andere Leute eine Postkarte.

Der Unterschied: ein Song von Robert Scott ist besser als die meisten Postkarten, wärmer und freundlicher als jeder 9 x 13 cm große karibische Sonnenuntergang. Auf hohle Phrasen wird verzichtet und trotz wieder erkennbarer Handschrift, freut man sich auch nach einem Berg Songpostkarten von Robert Scott noch auf die nächste. „Ich setze mich hin“, so erläutert Scott seinen Songwriting-Prozess, „und schreibe einen Song nach dem anderen weg. Davon ist vielleicht jeder zehnte so gut, dass ich ihn mir später noch einmal vornehme und weiter daran arbeite.“ Die anderen neun wandern in den Songwritermüllschlucker.

Die meisten Lieder schreibt Robert Scott für ein weitgehend unbekanntes Unterfangen: Electric Blood. Ein Schlafzimmerprojekt, das er 1978 mit seinem Bruder Andrew und einem Haufen rumpeliger Sixties-Coverversionen begann, und mit dem er bis heute ein gutes Dutzend Tapes veröffentlicht hat. Nur wenige davon haben je die Südinsel Neuseelands verlassen. Die besten Lieder schrieb er für seine Hauptband, die Bats, die just dieser Tage seit zwei Dekaden besteht. In den 80ern waren die Bats maßgeblich mitverantwortlich dafür, dass man hierzulande einige Jahre überzeugt war, Neuseeland würde den leicht klebrig gewordenen Gitarrenpop Englands einfach mit einer Böe unbefleckter Reinheit hinweg pusten.

Schließlich bildete sich in diesem kleinen Land dort unten niemand ernsthaft ein, von seiner Musik leben zu können. Bei gerade einmal dreieinhalb Millionen Einwohnern lebten in Neuseeland selbst Chartbands von Sozialhilfe. Die Idee, ohne einen Umzug nach London auch außerhalb des Heimatlands Erfolg zu haben, schien der notorisch von Minderwertigkeitskomplexen gequälten neuseeländischen (Musiker-)Seele nicht in den Sinn zu kommen. Rock-Star-Allüren waren daher nicht existent, ein Kopieren kommerzieller Erfolgsrezepte aus Mangel an Vorlage und Perspektive nicht möglich.

Das änderte sich selbst dann nicht, als findige Vinyl-Importeure erstmals neuseeländische Bands wie Clean, Chills und eben die Bats in Plattenläden der nördlichen Hemisphäre lotsten. Trotz rasant erweiterter Käuferkreise und trotz der Erwähnung dieser Namen auf den damals heiligen Seiten des NME wehten auch weiterhin Monat für Monat allerfrischeste neuseeländische Gitarrenpopsongs in die Indie-Charts – unprätentiös, kaum inszeniert und mit Melodien, ansteckender als Gonorrhoe. Jene, die Robert Scott zu diesen Song-Schwärmen beisteuerte – und das waren nicht wenige – bestachen durch eine unwiderstehliche Mischung aus Folkmelodien und ringenden Gitarren, die jedem Go-Betweens-Fan das Herz aufgehen ließen. Und R.E.M. waren gleich so angetan, dass sie auf einer Tour 1987 vor jedem ihrer Auftritte die Bats-LP Daddy‘s Highway spielen ließen.

Doch natürlich zog das Spotlight des Hype eines Tages weiter – und Neuseelands Gitarrenpop-Szene sank zurück in das provinzielle Halbdunkel, das nur noch hartgesottene Fans sondierten. Belohnt wurden die Getreuen auch weiterhin durch famose Platten wie denen der Bats und im vergangenen Jahr sogar von Robert Scotts erstem Soloalbum The Creeping Unknown.

Mit einer Vielzahl merkwürdiger Keyboardsounds und Studiospielereien huldigt er darauf seiner persönlichen Vorliebe für die teutonischen Spacekadetten des Krautrock, knüpft deren neblige Technikverliebtheit jedoch abermals an schmerzhaft-schöne Melodien. Eben diese werden bei seinem Auftritt am kommenden Sonntag auch im Vordergrund stehen – elektronische Spielereien fanden in der konzentrierten Bandversion dann keinen Platz mehr.

Zu zeigen, dass Neuseeland mehr ist als das Land der unbeschwerten Gitarren-Popper, dazu steht an diesem Abend Graeme Jefferies bereit. Seine musikalische Vita umfasst mit den Nocturnal Projections eine der produktivsten und zugleich ungewöhnlichsten Punkbands Neuseelands, die kurz vor ihrem Auseinanderfallen 1982 bereits in eine entschieden ruhigere Richtung driftete. Eine Entwicklung, die mit This Kind Of Punishment weiter verstärkt wurde, dem nächsten Projekt Graeme Jefferies mit seinem Bruder Peter. Filigrane Klaviereinsprengsel und melancholische Celloeinsätze anstelle ohrenbetäubender Gitarrenwände, und die intensive Arbeit im selbst eingerichteten Heimstudio ersetzte das zermürbende, immergleiche Tourleben: This Kind Of Punishment waren die Antithese zu den Nocturnal Projections.

Mit seinem daran anschließenden Bandprojekt The Cakekitchen pendelte sich Graeme Jefferies, ganz Kantianer, in der Mitte zwischen den beiden Extremen ein: Auch hier greift er gerne auf klassische Instrumente wie Klavier, Violine und Cello zurück, kombiniert diese jedoch durchaus auch mal mit lauten Gitarren – ohne dass seine fatalistisch schwermütigen Melodiebögen dabei Schaden nehmen würden.

Ein gewisser Chick Graning schließlich, vor einigen Jahren womöglich hier und da als Sänger von Anastasia Screamed bekannt geworden, wird den Abend eröffnen.

Sonntag, 20:30 Uhr, Schilleroper