Bildersturm auf das Leben

Von kurios bis abgefahren: Im Rahmen der artgenda zeigt das Metropolis am Montag auf seiner vierstündigen FilmGala ungewöhnliche Kurzfilme. Baltische Künstler richten die Objektive auf ihre Lebenswelt

Unsere Welt ist vor allem eine Welt der Bilder: kaum ein Flecken Erde, der noch nicht abgebildet wurde, und auch kaum ein Platz, der nicht auch bebildert ist. Für den Filmemacher bedeutet das ein wahres Dilemma, denn er bringt hervor, was unsere Kultur ohnehin schon im Übermaß hat. Verständlich ist da die Skepsis vor den eigenen Mitteln, die sich auf der FilmGala aus fast allen Beiträgen herauslesen lässt. Am häufigsten begegnet man ihr in der spielerischen Dekonstruktion gängiger Medienformate.

So kann zum Beispiel schon die stumpfe Bilderflut des Fernsehers zu einem reichen Fundus für Filmideen werden. Wie, das zeigt Jakob Nielsen an einem ungewöhnlichen Boxkampf, mitgeschnitten bei einem Sportkanal: Zwei Mittelschwergewichter tänzeln da über 10 Minuten lang umeinander herum, ohne auch nur ein einziges Mal zuzuschlagen. Nielson unterlegt den Kampf mit kontrapunktischen Jazztönen und lässt die beiden Sportler genüsslich ins Leere laufen. Ein anderes Mal nimmt der gebürtige Däne sich eine Musik-Lehrsendung vor, stückelt und vertauscht Töne und Bilder und komponiert daraus einen eigenen Film mit neuem Beat.

Wer könnte sich bei solch verblüffender Strategie medialer Aufbereitung wohl besser als Pate für das Gala-Projekt eignen, als die Hamburger Künstler-Gruppe Reproducts. Seit über 12 Jahren hat sich das Duo die „Wiederverwertung von Medienmaterial“ zum Ziel gesetzt und sich durch lakonische Themenabende wie die „Nacht des Vergessens“ oder „Derricks Nachtgebete“ hervorgehoben. Jetzt haben die Reproducts aus über 20 Stunden Filmmaterial ein furios gemischtes Programm zusammengestellt, in dem kein Film dem anderen gleicht. Gezeigt werden die zahlreichen Beiträge in thematischen Blöcken, die Pausen werden mit Webcam-Live-Übertragungen von Ostsee-Städten galant verkürzt.

Die Kurzfilme bilden, jeder für sich und auf seine Art, radikal subjektive Zeugnisse des Daseins, die auch immer von der eigenen Kultur erzählen. So sind die Beiträge aus Litauen und Estland eher politisch ambitioniert, während Dänen und Finnen sich lieber ihrem verschrobenen Humor hingeben. Out-of-Body-Experiences, apathische Seinszustände und Ich-Vertauschungsmaschinen wechseln sich ab mit wild entschlossenen Graffiti-Aktionisten und blutig-ernsten Worten zur Lage der Nation, die in weißgrauen Wurstdärmen verpackt sind.

Das Selbstbewusstsein der modernen litauischen Frau veranschaulicht Kristina Inciuraite mit ihrer Video-Installation Marriage: Ein und dieselbe Dame steigt dort in kurzen Abständen an der Seite eines immer neuen Mannes die Hochzeitstreppe herunter. Provokanter verfährt der estländische Künstler Kiwa. In seinem Video-Clip Da girl is rockin‘ bewegt ein kleines Mädchen zu ruckartigen Beats die Hüften und streckt vergnügt seine Zunge raus. Durch gezielte Zooms und schnelle Schnitte wird die unschuldige Situation vollkommen sexualisiert. Der Clipin seiner Pornoästhetik kommt mit der Geste des Tabubruchs daher.

Ob Installation oder dramatisch Inszeniertes, ob Zeichentrick oder Dokumentation: Allen Beiträgen gemein ist das Fehlen einer glatten, leicht entzifferbaren Oberfläche. Ihr Geheimnis dürfen die Filme allesamt bewahren. Oft haftet ihnen der Charakter des Vorläufigen, ja Unfertigen an, was aber nicht schadet. Ganz im Gegenteil: Das Spontane und Improvisierte macht sie erst zu dem, was sie sind: filmische Aperçus, so vielfältig wie das Leben selbst.

Anke Eickhoff

Mo, 19 Uhr (Achtung: anders als im artgenda-Heft angekündigt!), ab 23 Uhr sorgen die DJs „Die Inchpektoren“ mit obskurer Filmmusik für einen passenden Ausklang im Hof, Metropolis