fernöstlicher diwan
: Vom theatralischen Abgang eines früheren Weltstars

Ihr Auftritt, Señor Caniggia!

Wutentbrannt zückte der Referee die rote Karte, ohne dass ein dazu passendes Foul auf dem Spielfeld stattgefunden hätte. Was war geschehen? Etwas Außergewöhnliches, nie Gesehenes. Nicht etwa der nervöse, unentwegt an der Seitenauslinie auf und ab marschierende Coach, sondern ein Reservist wurde des Feldes, genauer: von der Reservebank gewiesen. Nicht irgend ein Reservist musste die Stätte der drohenden Schmach verlassen, sondern ein in die Jahre gekommener Weltstar: Claudio Caniggia, 35, zum letzten Mal dabei. Ein unrühmlicher, dafür aber theatralischer Abgang nach Maß, ohne den wir seiner kaum mehr ansichtig geworden wären. Hatte er die Nase voll von Entscheidungen des Schiedsrichters oder nervte ihn schlicht das aussichtslose Anrennen seiner Gauchos gegen die cool stehenden schwedischen Eichen? Nun, wer einen Araber wie Ali Bujsaim aus den Vereinigten Emiraten nichts weniger als einen „Hurensohn“ nennt, muss wissen, was ihm blüht. Nehmen wir

DIE WM VON NORBERT SEITZMein Spieler: Michael Owen – weil er uns mit jedem Solo schwelgerisch an München, damals vor dem 11. September, erinnern lässt.Mein Team: Anstelle der schmerzlich vermissten Holländer: Portugal – fragil, aber furios erinnern sie uns daran, wie ein besseres Turnier aussehen könnte.Mein Weltmeister: Brasilien – ist ein welthistorisches Muss. Um die sprachlos machende Rehabilitierung der Fußball-Teutonik durch die skandinavische Hintertür zu verhindern.also einfach an, er hatte keine Lust mehr, die Bank bis zum erwartbaren bitteren Ende zu drücken, spürte, dass er an dieser Stätte und auf diesem Turnier nichts mehr reißen würde. Aber als Hinterbänkler unverrichteter Dinge sich auf krokodilledernen Turnschuhen aus diesem synthetischen Mobilhallenfußballturnier zu stehlen, dies lag der alten Diva CC wohl fern. Ihr Auftritt, Señor Caniggia!

Fußball-Geschichte hat er geschrieben, der alte Kokser, erst im Duett mit dem göttlichen Maradona, dann gecleant mit Batigól. 1990 in Italien avancierte der Blonde mit dem langen, wehenden Haar zum Schlüsselspieler des WM-Turniers. In Turin war er gegen die turmhoch überlegenen Brasilianer in der 81. Minute mit einem tödlichen Pass des Göttlichen auf die Reise geschickt worden, tanzte Zerberus Taffarel nach Belieben aus und stürzte die Seleção in die schwerste Sinnkrise seit Pelés Abschied. Doch der eiskalte Engel schlug nochmals zu – an jenem neapolitanischen Abend des Halbfinales, als die heimischen Tifosi mit einem schnurgeraden Kopfstoß aus allen Titelträumen gerissen wurden.

Aber die Spielernatur hielt nicht durch. Er hätte zum Superstar der WM reüssieren können, wäre ihm nicht ein völlig überflüssiges Handspiel unterlaufen, das ihm eine folgenreiche Gelbsperre für das Finale gegen die Deutschen eintrug. Seines Sturmes beraubt, mit einem angekränkelten und in die Jahre gekommenen Maradona allein auf weiter Flur gegen Augenthaler & Co, verloren die Argies in einem glanzlosen, tränenumrankten Finale. Maradona und Caniggia wurden zu tragischen Figuren, weil sie zuvor bis zum Finale den attraktivsten Ball gespielt hatten.

13 Monate wurde Claudio Caniggia wegen Kokainmissbrauchs von der Fifa gesperrt, ehe er sechs Wochen vor der WM in den USA 1994 zurückkehrte, um mit seinem alten Partner und Spezi erneut für Furore zu sorgen. Eine triumphale Revanche der beiden Dopingsünder für die römische Schmach schien sich anzubahnen. Mit den Geheilten sei Argentinien wieder eine Macht, hieß es überschwänglich. Dem „fragilen Bewegungsgenie“ (Marcel Reif) auf dem Flügel gelang im siegreichen Fight gegen die neuen Himmelsstürmer aus Nigeria ein blitzsauberes Freistoßdouble, jeweils inszeniert – von wem wohl? – , darunter auch das 1.500ste WM-Tor für die Annalen.

Die Show war groß und einzig, währte aber nur kurz. Nicht die Hand Gottes, sondern ein Ephedrin-Cocktail war im Spiel. „Der Fußball ist zu Ende, aber nicht das Leben“, vertat sich der erwischte Diego im damals ersten seiner vielen Abschiedskommentare. Und als die Gauchos geschockt gegen Rumänien aus dem Turnier flogen, war Caniggia erneut nicht dabei. Wie am Mittwoch in Miyagi, als er sich mit einem Foul auf der Reservebank letztmalig in Erinnerung rief und von der staunenden Fußballwelt verabschiedete. Adiós, Claudio, ein pfeilschnelles Flügelsolo wäre uns lieber gewesen.

NORBERT SEITZ