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stefan kuzmany über AlltagStabile Seitenlage? Lange her

Klar helfen wir unseren Not leidenden Mitmenschen. Und zwar unabhängig davon, ob die Hilfe wollen oder nicht

Von links kam ein Fahrradfahrer. Ich bremste meinen Wagen sanft ab und kam etwa zwei Meter vor dem Radweg zum Stehen. Der Radfahrer wurde langsamer, immer langsamer. Als er die Kreuzung etwa halb überquert hatte, hatte er keine Geschwindigkeit mehr. Seine Beine baumelten schlaff links und rechts neben den Pedalen herab. Er stützte sich nicht ab. Verlor das Gleichgewicht. Stürzte auf den Asphalt und blieb liegen.

Ein Mann. Vielleicht fünfzig Jahre alt. Ein graues Jackett über einem Pullover, dafür war es eigentlich zu warm. Eine blaue Cordhose. Zwei Fußgänger waren schon bei ihm, beugten sich über seinen reglosen Körper. Ich stieg aus.

„Hallo? Können Sie mich hören?“ Er reagierte nicht. Äußerlich waren keine Verletzungen zu sehen. „Helfen Sie mal, legen wir ihn ins Gras“, sagte einer der Passanten. Ich zögerte. Mit schlechtem Gewissen. Gewiss. Aber wer es einmal erlebt hat, wie neben einem, an der Straßenbahnhaltestelle, einer umfällt, einfach so, und wer dann hingegangen ist und ihn aufgehoben hat mit aller Kraft, und wen dieser Mann dann erst in einem üblen Schwall beschimpft hat und dann in einem noch übleren Schwall von oben bis unten angekotzt hat, dass einem seine Schnapsmagensoße vom Mantel tropft – der wird mein Zögern verstehen. Und erst nach einem Zögern anpacken. Bis das schlechte Gewissen das Zögern besiegt.

Durften wir ihn überhaupt bewegen? Konnte er nicht komplizierte Brüche haben, innere Verletzungen, und unsere Hilfsmaßnahme würde alles nur noch schlimmer machen? Doch für solche Gedanken war es zu spät. Der andere Passant zog bereits an den Armen des Gestrauchelten.

Wir wickelten seine Beine aus dem Fahrradgestell, mit dem sie sich seltsam verflochten hatten, und transportierten ihn so sanft wie möglich zu einer Grasnarbe. Er reagierte immer noch nicht auf unsere Ansprache. „Vielleicht sollten wir einen Krankenwagen rufen“, sagte der helfende Passant. Ich zog mein Handy aus der Tasche. Und war ratlos. Welche Nummer wählt man in so einem Fall? Die 19222? Die 112? Die 110? Oder welche? Ich wählte die 110.

„Polizei, Platz 38.“

„Ja, guten Tag, hier ist ein Mann vom Fahrrad gefallen. Einfach so. Lausitzer Platz Ecke Skalitzer Straße.“

„Aha.“

„Ja, wir haben uns gedacht, es wäre vielleicht gut, wenn ein Krankenwagen käme.“

„Ist er ansprechbar?“

„Moment.“

Der helfende Passant versuchte erneut, den Mann anzusprechen. Keine Reaktion.

„Nein, er reagiert nicht.“

„Ist er betrunken?“

„Moment.“

Ich fragte den helfenden Passanten. Der beugte sich noch mal über den Verunglückten, der da immer noch lag wie tot. Er versuchte, an seinem Atem zu riechen. Er roch offenbar nichts.

„Nein, er ist nicht betrunken.“

„Gut, wir schicken jemanden vorbei.“

Die Sonne schien hell und warm auf den Lausitzer Platz in Berlin-Kreuzberg. Eine Schulklasse kam vorbei. Neugierig schauten die Kinder auf den gestürzten Mann, der da auf der Grasnarbe lag. „Kommt, wir gehen weiter, die kümmern sich schon um ihn“, sagte die Lehrerin. „Sollten wir ihn nicht in die stabile Seitenlage drehen?“, fragte der helfende Passant. Tja, von diesem Begriff hatte ich auch schon mal gehört. War lange her. Ein dritter Passant kam dazu. Ohne uns zu fragen, packte er die Füße des Liegenden, riss sie hoch und schüttelte sie kräftig durch. Wir waren etwas schockiert von seiner Methode. Aber er hatte Erfolg.

„Heeeebrrrheebrlmbr!“, rief der Liegende. Der Passant schüttelte weiter.

„Heeebrrrrhöaauf!“, rief der Liegende. Der Passant schüttelte weiter.

„Lassmichhöaauf!“, rief der Liegende. Der Passant hörte auf.

Der Mann, der da vor uns im Gras lag, war offenbar stockblau. Vielleicht hatte er den Sieg der deutschen Nationalelf über Kamerun etwas zu heftig begossen. Wahrscheinlich aber feierte er noch am Sieg über Saudi-Arabien und hatte von dieser Kamerun-Sache vor zwei Tagen noch gar nichts mitbekommen.

Ein Polizeiauto bog um die Ecke und hielt. Zwei Beamte stiegen aus. Ich hatte genug gesehen. Ging wieder zu meinem Auto und fuhr zu meiner Verabredung mit meinem Bekannten Hubert. Hubert kennt sich aus in der Stadt, sagt er. Er kommt vom Land. Aber er lebt schon lange hier. Hubert sagt, man kann Provinzler daran erkennen, dass sie sich umdrehen, wenn jemand etwas Seltsames tut, zum Beispiel stolpern. Hubert will auf keinen Fall mehr ein Provinzler sein. Ich erzählte ihm von meinem Erlebnis.

„Bist du blöd!“, sagte Hubert. „Ich wäre gleich weitergefahren“, sagte Hubert. „Am Ende“, sagte Hubert, „zeigt er dich an und behauptet, du hättest ihn angefahren. Also, ich hätte nicht angehalten.“

Ich bestellte noch ein Hefeweizen; mit dem festen Vorsatz, so betrunken zu werden, dass ich Hubert ohne Probleme von oben bis unten voll kotzen könnte.

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