Was sollen denn die Leute denken?

Am Christopher-Street-Day feiern Schwule und Lesben sich selbst. Politisch haben sie viel erreicht. Die Herkunftsfamilie ist die letzte – und größte – Bastion, die sie noch erobern müssen

von JAN FEDDERSEN

Voriges Jahr, der Oktober hatte gerade angefangen, wurde er hauptsächlich bettlägerig. Konnte sich nicht mehr selbst versorgen, nur noch selten einkaufen oder spazieren gehen. Die Beine, das Kreuz, eine Altersdiabetes, dazu eine angegriffene Leber, „die vielen Bierchen“, wie er sagt. Erst 69 Jahre und seit zwölf Jahren in Rente, davor ein Leben als Elektriker. Werner Hagerer musste sich umstellen, er hatte ja keine Wahl.

Denn seine kaum jüngere Schwester Margot, eher drall von Statur und noch sehr fit, machte nicht viele Umstände. Klar, dass sie ihren Bruder in dessen Zweiraumwohnung im Berliner Bezirk Pankow pflegen wollte und würde. Aber dem kam das gar nicht recht, zunächst. Das bedeutete, dass sie in seine Wohnung kommt, aufräumt, für ihn einkauft, das Bett neu bezieht, also in seinen Schlafraum geht. Eben dies hat Werner Hagerer immer zu vermeiden gesucht; dass ein Mitglied seiner Familie in sein Privates eindringt. Nicht dass seine Schwester über Gebühr neugierig ist, aber selbstverständlich hätte sie gesehen, was sie nicht sehen können sollte – wie ihr Bruder lebt, besser: ist.

Sie hätte etwas zu sehen bekommen. Ansichtskarten von Freunden, geschickt aus Gran Canaria. Sofakissen, bestickt mit dem Spruch „Grüße aus Amsterdam“. Oder ein Foto, aufgenommen im letzten Urlaub. Darauf wären nur Männer zu erkennen gewesen, schon etwas von der Sonne angekokelt, jedenfalls in aufgeräumter Stimmung. Das hätte die Schwester fragen lassen: Wer ist das? Und: Was bedeuten sie dir? Es wäre vielleicht keine Fragerei mit misstrauischem Unterton gewesen, aber Fragen wären Fragen geblieben, auch wenn sie lediglich Teil freundlicher Anteilnahme gewesen wären.

Werner Hagerer hat sich in seiner Panik beholfen. Ehe erstmals seine Schwester ihn besuchen kam, hat er seine Wohnung von Freunden gründlich aufräumen lassen. Alle persönlichen Dinge ins Schlafzimmer bringen oder wegwerfen lassen. Dann hat er sich mit seiner Schwester geeinigt, dass sie ihn pflegen kann, hat gesagt, dass er sich sehr darüber freut, aber das Schlafzimmer, bitte, das dürfe sie auf gar keinen Fall betreten. Sie hat schließlich, ohne darüber auch nur eine Bemerkung zu verlieren, akzeptiert.

Denn was Margot Enning, wie Haberers Schwester seit ihrer Heirat heißt, nicht sehen sollte, ist der Bruder selbst: ein Mann, der weder seinen Eltern noch ihr je erzählt hat, weshalb er nicht geheiratet hat, woran es lag, „nie die Richtige“ gefunden zu haben, und auf deren vergebliche Suche er doch immer verwies, wenn man ihn fragte, wann er denn mal eine Freundin habe. Ein Mann, der sein Privates immer abgeschottet hat, seit er weiß, dass er schwul ist, was im Übrigen ein Wort ist, das er nicht mag, weil es in seinen „besten Jahren“, wie er sagt, „was Schlimmes“ bedeutet hat, „ich habe mich nie daran gewöhnt“. Also sagt dieser Mann, der sich früher durch eine Drahtigkeit auszeichnete, nun aber eher abgemagert wirkt, „andersrum“ zu sein, und eben das wäre in seiner Familie verpönt.

In seiner Kindheit, sagt er, habe ihn der Vater verprügelt, wenn er lieber mit Mädchen gespielt habe statt sich auf dem Bolzplatz mit anderen Jungs um einen Ball zu streiten. Oder wenn er der Mutter am „Rockzipfel“ hing, wie sie ja selbst immer beklagte, denn „ich war immer ein eher weicher Typ“. Irgendwann verließ Hagerer das Elternhaus und flüchtete zur Armee. Dort, sagt er, „habe ich gelernt, nicht mehr ständig am Wasser zu bauen“. Die Fragen seiner Eltern, von Onkeln und Tanten, nach der Freundin, die hörten alsbald auf, ein hoffnungsloser Fall, dieser Mann.

In der Stadt lebte er allein, einen Wohnungsschein konnte er als Unverheirateter lange nicht bekommen, aber er baute sich eine verwahrloste Altbauwohnung zu seinem „Puppenheim“ aus. Auf die Idee, einmal seine Nächsten mit seiner Homosexualität zu konfrontieren, ach was, sie als den natürlichsten Teil seiner Person zu erzählen, war er nicht gekommen. „Das war immer klar, auf einen warmen Bruder wie mich hat ja keiner gewartet, da hätten meine Eltern nicht mitgespielt, nein, das war kein Thema.“

Dieser Werner Hagerer hat einen anderen Namen, aber für diese Geschichte darf sein richtiger nicht genannt werden. Menschen wie ihn kennt Michael Unger viele. Erstaunlich nur, dass der Geschäftsführer des Sonntagsclubs, einem Bürgerbewegungshaus im Prenzlauer Berg für Homo- und Transsexuelle, diese Anekdoten nicht allein von alten Männern berichtet, die noch die Zeiten kennen, als Homosexualität in der DDR wie in der BRD verboten war und geächtet ohnehin. Nein, solche Erzählungen gibt es auch von Lesben und Schwulen, die heute jung sind.

Und das kann doch eigentlich nicht stimmen: Gibt es nicht in fast jeder TV-Serie Figuren, die als homosexuell geschildert werden, und zwar durchweg positiv? Haben denn all die Beratungs- und Lifestyleangebote, heißen sie nun Rosa Hilfe oder Christopher-Street-Day-Paraden, während der letzten zwanzig Jahre nicht geholfen, dem heutigen Homonachwuchs ein Coming-out ohne psychische Verletzungen zu sichern? Und hat nicht alle Welt versichert, dass Klaus Wowereits inzwischen ja legendäres Bekenntnis („ … und das ist auch gut so“) unnötig gewesen sei, denn schwul oder lesbisch zu sein berge doch gar kein Problem mehr?

Nach allem, was auch Coming-out-Beratungsstellen bekannt wird, was professionelle Homostreetworker wie Michael Unger oder ein Sexualwissenschaftler wie Martin Dannecker aus seiner Klinik berichten, ist diese Annahme gefährlich unzutreffend. Zwar gibt es seit der von der rot-grünen Regierung gepushten Regelung zur Eingetragenen Partnerschaft keine staatliche Diskriminierung Homosexueller. Keine relevanten politischen Strömungen gibt es, die Schwulen und Lesben den Tod wünschen (wie die Nationalsozialisten).

In Verruf brächte sich, wer die Anlage von Rosa Listen forderte, um (vor allem) Schwule zu registrieren, um sie gegebenfalls internieren zu können. Aber selbst wenn bei Älteren – wie bei Werner Hagerer – diese Überwachungs- und Verfolgungssysteme noch präsent sind, und sei es durch die (lustvoll-bedrohlich vorgetragene) Überlieferung in der Familie, bleibt doch rätselhaft, weshalb in Zeiten behaupteter Freizügigkeit, des anything goes, aktuellen Umfragen zufolge zwei Drittel aller Jugendlichen vor nichts so sehr Angst haben wie davor, homosexuell zu sein.

In Wahrheit kristallisiert sich mehr und mehr heraus, dass das Gros der Schwulen und Lesben wohl deshalb die Minderung staatlicher Verfolgung ziemlich an den Ärschen vorbeiging, weil das mächtigste Feld, auf dem sie Unerwünschtheit und fehlenden Respekt bitter kennen gelernt haben, von diesem Klimawechsel weitgehend unangefochten blieb – die Familie nämlich. Besser: die Herkunftsfamilie, Vater, Mutter, Geschwister, Großeltern.

Fast jeder Schwule, fast jede Lesbe kennt es aus dem eigenen Erwachsenenleben. Alle können und sollen es nötigenfalls wissen, aber am schwersten fällt das Geständnis bei den Eltern. Als ob es ein Delikt zu beichten gäbe: Und das darf wörtlich genommen werden, denn der Gegenstand heißt Verfehlung der elterlichen Wünsche, ja Ansprüche. Welche psychischen Schäden damit bewirkt werden, wissen Sexualberater wie Martin Dannecker, weiß aber auch einer wie Paul Parin zu berichten. Der Schweizer Ethnopsychologe berichtete, dass er viele Patienten gehabt habe, die Minderheiten angehören, genauer gesagt Schwule und Juden. Klienten beider Gruppen schilderten ein Gefühl von Unbehaglichkeit in der Welt, vom Eindruck, nicht wie selbstverständlich leben zu können. Immer laste ein Zwang zur Rechtfertigung auf ihnen.

Eine schöne Beobachtung, die Dannecker freilich differenziert: Eine wie Hannah Arendt hätte sich immer darauf verlassen können, dass ihr von der Familie geholfen wird, wenn sie als Jüdin diskriminiert werde. Ein Schwuler allerdings kann nicht darauf hoffen, vom Vater, von der Mutter in Schutz genommen zu werden, wenn er auf dem Schulhof mit „Detlev, Detlev“-Sprüchen gehänselt wird. Das ist der Familie selbst peinlich und scheint eine Beschämung zu wecken, die alles in den Schatten stellt, womit ein System von Familie sonstwie behelligt werden könnte. Alles darf das Kind sein, drogenabhängig, gewalttätig, ehrgeizarm oder überhaupt von schlechtem Charakter – aber bitte nicht homosexuell.

Die Aversion gegen das eigene homosexuelle Kind ist, jede und jeder kann das selbst überprüfen, selbst bei alternativen, liberal gesinnten, generell politisch korrekten Menschen kaum geringer ausgeprägt als bei Eltern, die auf bürgerliche Anständigkeit halten: Homosexualität ist der Disqualifikationsfall in der Blutsverwandtschaft und zugleich der Anlass, den ProtagonistInnen den Status des Paria zuzuweisen. Und ganz gleich fällt das Urteil über die Missachtung der elterlichen Erwartungen aus, fragt man nach den Geschlechtern: Mütter verhalten sich kaum weniger unerbittlich als Väter, ihr Hass auf den Eigensinn der Kinder ist gelegentlich gar größer als jener der Väter. „Was sollen denn die Nachbarn denken?“, war (und ist) die gängige Ausrede – und sie verdeckte nur, was die Eltern selbst dachten (und denken). Die Liebe zu ihren Kindern knüpfen sie stets an Bedingungen. Außerhalb der elterlichen Definition können die Kinder nur als misslungen wahrgenommen werden.

Wie aggressiv Eltern sein können, hat die Schwulenbewegung in den Achtzigerjahren feststellen können, als tausende von Homosexuellen an den Folgen von Aids starben: Nur wenige Eltern respektierten den Wunsch ihres toten Sohnes, die Angehörigen ihrer Wahlfamilien in die Trauerzeremonie mit einzubinden. Manche drohten gar mit der Polizei, wenn dessen Freunde zur Beerdigung (irgendwo in der Provinz) angereist kommen würden.

Diese Form der stillen Gewalt schimmerte die vergangenen Jahre durch, wenn heterosexuelle (ob liberal oder konservativ-wohlmeinend) Kommentatoren ein Urteil zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft trafen. Das klang immer nach: Wir finden eure Christopher-Street-Day-Paraden toll, denn ihr seid wunderbar schrill – aber das Terrain der Ehe, ja, der Familie, das bleibt unseres. Und das ist auch gemeint, wenn Angela Merkel, die CDU-Vorsitzende, zur Perspektive eines Regierungswechsels im kommenden Herbst sagt, die randständigen Fragen seien ihre Sache nicht, eher die der Familie. Als ob Schwule und Lesben keine Familien gründen könnten. Sie tun es längst.

Immerhin schweigt die Homoszene nicht mehr zu diesen Fragen. Auf dem diesjährigen CSD-Heftcover ist eine Wahlfamilie zu sehen: eine Frau und zwei Männer und ein Kind. Niemand kann genau sagen, wer mit wem wie zusammenhängt – ob als Eltern, Co-Elternteile, als leibliche oder als adoptierte Kinder. Und das ist für das konkrete Leben nur gerecht so, denn das Bild der klassischen Familie ist ohnehin ein mehr und mehr verschwommenes. Schließlich gibt es genügend schwule Männer, die mit ihren Coming-outs nicht mehr den Wunsch nach einem eigenen Kind zu wünschen aufhören. Und noch mehr lesbische Frauen, die ganz eigene Ideen von Elternschaft haben – und sei es, dass sie sie mit Hilfe einer Samenbank zu befriedigen suchen.

Schwule und lesbische Eltern werden dann den Beweis erbringen können, dass ihre Vorstellungen davon, wie ihrem Kind, ihren Söhnen und Töchtern ins Leben zu helfen ist, weniger erwartungsschwer ausfallen (und geglaubt werden) als den ängstlichen und ehrpusseligen Heterosexuellen.

Was aber, einmal für die Zukunft entworfen, wirklich zu einer besseren Laune homosexueller Kinder (und zu einem Gefühl des erwünschteren Lebens) beitrüge, wären Eltern, die ihre Kinder nicht nur dann gut finden, wenn sie tun, was sie möchten. Wenn Mütter und Väter in ihren Söhnen und Töchter nicht allein ihre (heterosexuellen) Erbschaften weitergelebt sehen wollen. Da vor allem Männer die potentesten Erwartungen bedienen müssen, wäre schon viel getan, wenn mehr Männer sich um ihre Kinder kümmern und vor ihnen nicht die Mannmaschine spielen müssen – und dies die Frauen zuließen.

Verhinderte Chancen, nichts als ungelebte Möglichkeiten. Einem wie Werner Hagerer hätte dies vermutlich geholfen: ein Ja zu seiner Person. Ob er glücklicher geworden wäre, muss offen bleiben. Wenigstens hätte er ausprobieren können, was die Liebe gibt, wenn sie nicht versteckt werden muss. Seine Schwester hätte so etwas wie Anteil nehmen und sie sich nahe sein können.

JAN FEDDERSEN, 44, ist taz.mag-Redakteur