zukunft des nahverkehrs
: Bernd Küffner: Nahverkehr als Ikea-Modell

Fahrgäste bauen Reiseketten

„Fahrt alle Taxi!“ war der Titel eines Kommentars von Andreas Knie, Techniksoziologe an der TU Berlin, an dieser Stelle anlässlich des 100. Jubiläums der Berliner U-Bahn im Februar. Die taz diskutiert aus diesem Anlass – immer samstags – streitwürdige Thesen zur Zukunft des Nahverkehrs. Vorige Woche schrieb Wolfgang Schwenk über die positiven Fakten des real existierenden Nahverkehrs.

Fertige Schränke und Tische werden bei der schwedischen Möbelkette nicht verkauft. Man holt sich vielmehr einen Bausatz und greift selbst zum Schraubendreher. Der neue Nahverkehr wird ähnlich funktionieren: Der Fahrgast baut sich seine Reisekette nach Wunsch zusammen.

Das Ganze nennt sich Telematik. Telematik ist die Verbindung von Tele-kommunikation und Informatik.

Im Auto sind es z. B. die Navigationssysteme, die den Fahrer individuell zu seinem Ziel lotsen. Die ÖPNV-Unternehmen freilich verstehen die neue Technik noch viel zu begrenzt als eine Rationalisierung interner Abläufe. Der Fahrgast spielt dabei nur eine Nebenrolle. Salopp gesagt sind Telematikanwendungen im öffentlichen Verkehr heute so weit wie die EDV zu Beginn der 80er-Jahre. Damals brachte der PC die Wende, indem er Anwendungen für den persönlichen Gebrauch bereitstellte, wie zum Beispiel die Textverarbeitung.

Der ÖPNV orientiert sich mit Telematik noch am Vorbild der Güterverkehrslogistik und setzt sie zur Steuerung des Betriebsablaufes ein. Telematik regelt etwa die rechnergestützten Betriebsleitsysteme oder den Ersatz des Papiertickets durch Chipkarten. Dabei wird übersehen: Der Nahverkehr ist eine Dienstleistung für Fahrgäste.

Für sie ist das Talent der Telematik erst recht interessant. Denn sie hilft Kunden, ihre Fahrtroute maßgeschneidert zu kreieren. Dieser Gedanke hatte allerdings keine steile Karriere. Vor 15 Jahren war die elektronische Auskunft als reines Expertensystem zur Unterstützung des Schalterpersonals entwickelt worden. Eher nebenbei kam die Idee, die Fahrgäste könnten sich hier auch selbst bedienen.

Inzwischen gibt es Auskunftssysteme, die bundesweit alle Verkehrsmittel vom Stadtbus bis zum ICE kennen und die Verbindungssuche von Haus zu Haus anbieten. Paradox ist, dass Verkehrsbetriebe vielfach hinter diesem Stand zurückbleiben. So kennt die Auskunft der BVG nur die Straßen im Stadtgebiet Berlin. Bei einer Verbindung ins Umland, etwa nach Werder an der Havel, muss sie passen. Dort verlangt sie vom Nutzer die Angabe der Haltestelle. Hingegen finden Ausflügler per Internet bei der Deutschen Bahn die richtige Haltestelle in Werder. Automatisch wird sie anhand der Adresseingabe angezeigt und sogar der Fußweg zum Ziel am See wird auf einem Stadtplan markiert. Die Auskunft der Bahn berechnet zudem, wie lange die Reise vergleichsweise mit dem Pkw dauert und was sie kostet. Nur das Onlineticket zum Ausdrucken gibt es hier noch nicht, weil die Strecke innerhalb des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg liegt.

Seltsam, dass die Fahrgäste beim Großanbieter besser bedient werden als bei ihrem örtlichen Verkehrsunternehmen. Beim „Best Website Award“ des Verkehrsclubs VCD belegte die BVG-Homepage nur Platz 19 von 33. „Der Auftritt des Hauptstadt-Verkehrsbetriebes ist umfangreich, aber nicht immer sehr informativ“, urteilten die Tester. Dass gut gemachte Angebote gefragt sind, zeigt der Auftritt von www.bahn.de. Dort brummen die Server unter den Anfragen der KundInnen – eine Million pro Tag!

Eigentlich aber ist die Bezeichnung „Auskunft“ für den neuen „Kundenprozess“ im Nahverkehr nicht mehr zeitgemäß. Sie stammt aus der Epoche, als sich Fahrgäste vor dem Schalterfenster anstellten, dem Beamten ihre Fahrtwünsche vortrugen und warteten, bis sie „bedient“ wurden. „Der Nächste, bitte!“

Heute ist der Kunde in der Lage, bequem von zu Hause aus sein eigenes Reisebüro zu führen. Vorausgesetzt, er hat einen Computer mit Internetanschluss. Mit Hilfe der Fahrtplanungswerkzeuge stellt er Fahrketten zusammen, die zuvor wegen des hohen Abstimmungsaufwands nicht realisierbar waren. Dadurch verschieben sich die Gewichte in der Beziehung zwischen KundInnen und Verkehrsunternehmen. Fahrgäste werden zu Bestellern von Mobilitätsdienstleistungen.

Verwunderlich, dass sich dieser „Kundenprozess Mobilität“ noch nicht so durchgesetzt hat wie das Ikea-Modell auf dem Möbelmarkt. Schließlich dürfte es sich rentieren: Eine Online-Fahrtauskunft ist etwa um den Faktor 20 preisgünstiger als eine persönliche Bedienung am Schalter. Der Hemmschuh ist daher eher in der Branchenkultur selbst zu suchen. Die scheint jedenfalls noch im Postkutschenzeitalter zu stecken. Der Fahrgast wird da lediglich „befördert“ und hat währenddessen den Anordnungen des Personals zu gehorchen. Dieses Denken verstellt den Verkehrsunternehmen den Blick auf die sich entwickelnden Kundenprozesse. Zeit also für ein neues Verständnis zwischen Unternehmen und Fahr-„Gästen“. Nahverkehr der Zukunft wäre demnach: Der Fahrgast bedient sich selbst und das Verkehrsunternehmen stellt die dafür notwendigen intelligenten Anwendungen. An Technik und Software für die nutzerfreundliche Präsentation des öffentlichen Nahverkehrs wird es jedenfalls nicht mangeln – die steht schon heute zur Verfügung.

Der Bielefelder Dipl.-Soziologe Bernd Küffner berät öffentliche Verkehrsbetriebe und Kommunen im Verkehrsmarketing. Sein Schwerpunkt sind nutzergerechte Informationssysteme (www.oepnv-web.de).