Die lange Nacht des Wissenschaftlers

Der russische Physiker Nikolai Abrosimov sieht zu, wie die Kristalle wachsen. Über 30 Stunden muss er darüber wachen. Weil er sie allein entwickelt hat, kann nur er allein sie züchten. Er hat sich daran gewöhnt, doch ein begeisterter Nachtarbeiter ist deswegen nicht aus ihm geworden

Die Züchtung eines Kristalls sieht einfach aus, ist aber kompliziertAm härtesten ist nicht der Tag nach der Nachtschicht, sondern der nächste

von IVETTE LÖCKER
und HEIKE WINKEL

Nachts zu arbeiten, das erscheint wahren Nachtschwärmern als etwas ganz Besonderes, ein Privileg oder Abenteuer, das nur wenigen vergönnt ist. Die schrecklichsten Katastrophen ereignen sich zwischen drei und fünf Uhr in der Nacht, wenn die „innere Uhr“ des Menschen den Tiefpunkt der Konzentration anzeigt. Die Unfälle von Tschernobyl und Three Mile Islands oder der Untergang der Titanic werden von Schlafforschern auf das Versagen des Körpers um diese Zeit zurückgeführt. Nie ist das Verletzungs- und Unfallrisiko so hoch wie nachts. Schlafstörungen, Magen-Darm- und Herz-Kreislauf-Beschwerden sind erwiesenermaßen die Folge von Schlafentzug.

Die Nacht sollte also doch zum Schlafen da sein. Doch die moderne 24-Stunden-Gesellschaft, in der absolute Flexibilität, maximale Produktivität und Service nonstop oberste Gebote sind, lässt das aber nicht immer zu. Für mehr und mehr Menschen wird es normal, auch nachts zu arbeiten.

Warum ich nachts arbeite? Aus purer Notwendigkeit, sagt Nikolai Abrosimov mit einem verschmitzten Lächeln, das alle wild wuchernden Schwärmereien Lügen straft. Er streicht sich kurz über den schon leicht ergrauten Schnurrbart und betritt seinen nächtlichen Wirkungsort durch eine schwere Tür mit Luke, die in eine große, moderne Halle mit Industrieflair führt und in einen der Räume des wissenschaftlichen Zentrums in Berlin-Adlershof. Jeden Tag kommt Nikolai Abrosimov aus Marzahn hierher und oft erst abends. Nikolai Abrosimov ist Physiker, genauer: Kristallograf. Vor fast neun Jahren zog der russische Forscher aus Moskau nach Berlin. Seitdem arbeitet er am Institut für Kristallzüchtung. Hier hat er eine neuartige Methode entwickelt: Er züchtet Mischkristalle, die vor allem in modernen physikalischen Instrumenten eingesetzt werden können, zum Beispiel in Gamastrahlen-Teleskope. Sein Lebensrhythmus hat sich verschoben seit damals, hat sich eingestellt auf viele Nachtschichten. Denn der Züchtungsprozess eines Kristalls dauert dreißig Stunden, in denen das Wachstum genau kontrolliert und beobachtet werden muss. Sonst bekommen die Kristalle nicht genau die Struktur, die sie brauchen, um eingesetzt werden zu können.

Kristall klingt nach Ewigkeit, und Ewigkeit bewegt sich nicht schnell. Kristalle wachsen zu sehen scheint darum so unwahrscheinlich, wie Gras wachsen zu hören. Doch Abrosimovs Kristalle wachsen so rasant, dass man ihnen dabei zusehen kann. Dafür sehen Abrosimovs Kristalle auch nicht aus wie Edelsteine, eher wie Metall. Nicht bizarr, wie ein Bergkristall, sondern glatt und glänzend. Die Maschine, in der sie entstehen, mutet von außen an wie ein kleines U-Boot samt Bullauge, von innen wie ein Schmelzofen. Bei 950 Grad Celsius wird darin aus einem flüssigen Silicium-Germanium-Gemisch der Kristall fast wie Glas gezogen. Der Kristall hängt kopfüber und dreht sich um die eigene Achse, dreißig Stunden lang, bis er circa 150 Millimeter lang und 36 Millimeter dick ist.

Ausgerechnet heute läuft es irgendwie nicht so glatt, wie es soll. Unruhig beaobachtet Nikolai die beiden Monitore vor sich. Die Kurven auf den Bildschirmen zeigen, dass sich der Kristall nicht in die Form entwickelt, die er am Ende haben sollte. Perfektion ist angesagt. Eigentlich sollte das Computerprogramm den Züchtungsprozess vollautomatisch durchführen. Dann wächst der Kristall von allein, und Abrosimov muss ihm nur dabei zusehen. Aber auch ein Programm trifft manchmal die falsche Entscheidung und dann muss der Physiker eingreifen, zum Beispiel die Hitze im Schmelzofen erhöhen. Das Computerprogramm hat er gemeinsam mit einem russischen Softwarespezialisten entwickelt. Ohne dieses Know-how würden in Adlershof keine solchen Kristalle gezüchtet und verkauft werden, wie das zum Stolz des Instituts heute möglich ist. Sogar die Forscher von der Internationalen Raumfahrtstation ISS haben schon ihr Interesse bekundet.

Nikolai steht vor seinen Monitoren. Seine Miene hellt sich auf, denn langsam scheinen die Kurven wieder zu stimmen. Er ist müde und er wäre froh, wenn es zur Abwechslung auch einmal personellen Zuwachs gäbe, wie im letzten Jahr. Da hatte Nikolai wenigstens für ein paar Monate Untersützung von einem weiteren russischen Physiker, den er nach Berlin eingeladen hatte. Da konnte er sich zwischendurch wenigstens kurz auf seiner Couch ausruhen im Arbeitsraum gegenüber. Wenn er allein die Nachtschicht schiebt, ist er die ganzen dreißig Stunden auf den Beinen, ohne ein Auge zuzumachen. Es gibt niemanden in seiner Abteilung, der die Zucht dieser Kristalle von Anfang bis Ende so durchführen kann wie Nikolai. Er ist der Vater der Kristalle, und das macht ihn auch ein wenig stolz.

Adlershof wird zum Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort ausgebaut. Auf dem ehemals militärisch genutzten Gelände entstehen moderne Industriegebäude mit aufwändigen Glasfassaden, Gewerbeeinrichtungen kündigen sich auf großflächigen Plakaten an, der Medienstandort Adlershof hat seine Tore bereits geöffnet. Nachts wirkt das Gebiet dennoch sehr verlassen, ausgestorben und fast ein wenig unheimlich. Natürlich ist das Gebäude bewacht, und Abrosimov fühlt sich in der dunklen und stillen Umgebung nicht unsicher. Im Gegenteil, für die Arbeit schätzt er die Ruhe der Nacht. Konzentration ist wichtig. Früher hat er sich vorgestellt, während der Nachtschichten zum Beispiel an seinen Artikeln zu schreiben. Doch auch nach Jahren der Arbeitsroutine ist er schon zufrieden, wenn er ab und zu einen Blick in die Zeitung werfen kann. Zu mehr kommt er auch in ruhigen Nächten nicht, in denen es sogar ein bisschen langweilig werden kann. Aber auch die sind ihm lieber, als die stressigen Nächte, in denen die Kristalle nicht so wachsen wollen wie gewünscht.

Die Entstehung eines Kristalls gleicht ein wenig einer Geburt. Sie ist kompliziert, auch wenn alles ganz einfach aussieht. Vor Überraschungen ist Nikolai nie gefeit. Denn ob der Kristall gelungen ist oder nicht, dass kann der Physiker erst erkennen, wenn er ihn in den Händen hält, und das ist erst nach dem Abkühlen möglich. Wenn er seine Nachtschicht beendet, lässt er den noch heißen Kristall zurück. Bis zum nächsten Mal muss er mit der Ungewissheit leben, ob die Arbeit erfolgreich war. Böse Überraschungen erlebt Nikolai zum Glück nur noch selten.

Er hat sich daran gewöhnt nachts zu arbeiten. Es ist normal. Es macht keinen großen Unterschied für seine Tätigkeit, zu welcher Tageszeit er arbeitet. Tagsüber geht es zwar ein wenig lebhafter zu im Institut, aber wirklich hektisch ist es eigentlich nie. In der Halle, in der die Produktion stattfindet, arbeiten auch tagsüber nicht viel mehr Kollegen als nachts. Ein begeisterter Nachtarbeiter ist Nikolai dennoch nicht, er kann der Nacht kaum Vorzüge gegenüber dem Tag abgewinnen. Aber er weiß, es muss sein und darum erledigt er seine nächtliche Pflicht mit stoischer Ruhe. Sie gehört nun einmal zum Arbeitsalltag und natürlich auch längst zum Privatleben. Seine Ehefrau hat sich genauso daran gewöhnt wie er. Schließlich ist sie auch Wissenschaftlerin, und Nikolai kann auf ihr Verständnis setzen.

Sie kann verstehen, dass Nikolais Herz an diesen Kristallen hängt, die er entwickelt hat und die nur er allein züchtet. Kein anderer kann diese Arbeit tun – anstrengende Routine und doch Ausdruck absoluter Einzigartigkeit. Hinter der Selbstverständlichkeit, mit der er sich die Nächte um die Ohren schlägt, stecken jahrelange Forschungsarbeiten, eine große Portion Idealismus und jede Menge Enthusiasmus.

Nach einer ganz normalen Arbeitsnacht fährt Nikolai zurück nach Marzahn, um sich auszuschlafen. Die Müdigkeit kommt mit Verspätung, ein Jetlag, der Nikolai vertraut geworden ist. Am härtesten ist nicht der Tag nach der Nachtschicht, sondern der nächste. Die durchwachten Nächte stecken tief in den Knochen, die Schlaflosigkeit hinterlässt ihre Spuren am ganzen Körper.

Und wenn des nachts im Labor mal wieder alles schief zu laufen droht, dann kann er sich noch immer darauf besinnen, dass seine Kristalle grandiose Dinge bewirken können, dass sie zum Beispiel dabei helfen, die Entstehungsweise der Sterne verstehen zu lernen. Das sind die durchwachten Nächte wert und auch die unruhig verschlafenen Tage, wenn er noch in seinen Träumen mit den Kristallen kämpft.