: Die Jugend eine Wüste
Eine breite Palette heutiger Sprech- und Sichtweisen: Lange Nacht der Autoren am Thalia Gaußstraße
Die Nacht war warm, die Gaußstraße zum Bersten gefüllt. Autoren und Schauspieler präsentierten sich in aufgeräumter Form: „Die lange Nacht der Autoren“ rief zum Höhepunkt der Hamburger Autorentheatertage. Junge Regisseurinnen präsentierten drei rasante Werkstatturaufführungen von jeweils einer guten Stunde. Drei höchst unterschiedliche Stoffe – individuell angegangen und im Ergebnis durchaus passabel.
Zunächst Ulrike Syhas Autofahren in Deutschland, gleichermaßen von Road- wie B-Movie inspiriert. Regisseurin Nora Somaini zeigt keine Berührungsängste zum Trash: Die Pistolen sprechen, was das Magazin hergibt. Und die Autofahrt des Grafikdesigners Hugo gerät zu einem David Lynch-artigen Alptraum, bei dem verschiedene Wirklichkeiten – das ominöse Unbewusste – sich heimlich in die Realität einschleichen.
Dagegen geht es in Andri Beyelers The Killer in me is the Killer in you my Love wenig kriminell zu. In einem sommerlichen Schwimmbad versucht eine Clique fescher Jungs erste Gehversuche zum anderen Geschlecht und zur eigenen Männlichkeit. Mit allem was dazugehört: Rauchen, Pornohefte an der Pissrinne begutachten und Posieren vor den Mädels – vor allem vor der selbstbewussten Hanna (Silke Steffen).
In das heitere Cliquenleben mischen sich tragische Töne, Außenseitertum, Ausgrenzung und Fenstersturz. Und die unglückliche Lena (Claudia Renner) mag sich vor lauter Komplexen nicht ausziehen. Sensibel führt das Jugendstück vor, wie der „süße Vogel Jugend“ in Verzweiflung enden kann. Putzig inszeniert von Jorinde Dröse, die mit viel Situationskomik dem eher unspektakulären Sprachduktus unterhaltsame Nuancen beifügt.
Wenn es nach Jan Friedhoff (Die Kinder bringen den Müll raus) geht, ist die heutige Jugend eine einzige Wüste, ein Videospiel, in dem riesige Reptilien lauern. Dabei sind wir mitten im westfälischen Gütersloh. Wieder eine Clique mit ihren gruppendynamischen Prozessen. Vergebliche, grausame Liebe, wer ist der Lakai und muss die Burger ranschaffen. In ihrem Netz-Safari-Look sieht die Gruppe selbst aus, wie einem Computerspiel oder eine Modestrecke entsprungen. Annette Kuß‘ Regie gelingt es dabei am wenigsten, die episodenhafte Handlung mit ihrem zerfasernden, fast Rap-artigen Jugendjargon zu einer Linie zusammenzuführen.
Fazit: Viel Talent und manches Entwicklungspotential in diesen Tagen erkennbar. Eine breite Palette heutiger Sprach- und Sichtweisen, sorgfältig ausgewählt von Jurorin Christine Dössel. Auffällig häufig zitieren Autoren und Regisseurinnen verwandte Genres, um Wirklichkeit zu beschreiben, ob Videospiele oder filmischer Trash. Auch szenisch bedient man sich gerne bei harten Filmschnitten. Die Figuren reden kaum mehr miteinander. Das vereinzelte Subjekt spricht frontal zu den Zuschauern. Bekenntnisse sind offenbar einfacher zu formulieren, als sinnstiftende Kommunikation. Vielleicht könnte das Motto im nächsten Jahr lauten: „Dialogschreiber gesucht“.
Annette Stiekele
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